Der Standard, 16.10.2015

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EU und Türkei einigten sich auf Aktionsplan zu Flüchtlingen

Milliardenzahlungen in Aussicht gestellt – Visa-Erleichterungen für Türkei sollen beschleunigt werden

Brüssel – Die EU und die Türkei haben sich auf einen Plan zur Bewältigung der Flüchtlingskrise geeinigt. EU-Ratsvorsitzender Donald Tusk sagte nach dem Treffen der Staats- und Regierungschefs in der Nacht auf Freitag, der Türkei sei für eine bessere Grenzsicherung eine Beschleunigung des Visa-Liberalisierungsprozesses angeboten worden, und auch "sehr viel Geld".

Die Türkei fordert im Zuge der Einigung drei Milliarden Euro für die Versorgung von Flüchtlingen im Land – das ist dreimal so viel wie bisher von der EU angeboten. Dazu steht eine Einigung noch aus. "Wir werden mit der Türkei in den nächsten Tagen über die Finanzierung und das Ganze reden", bilanzierte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.

Die Türkei habe nach eigenen Angaben für die Versorgung syrischer Flüchtlinge in den letzten Jahren bereits sieben Milliarden Euro ausgegeben, die Forderung nach drei Milliarden Euro sei deshalb Thema gewesen, bestätigte die deutsche Kanzlerin Angela Merkel nach achtstündigen Gipfelberatungen. Merkel fliegt am Sonntag zu Gesprächen nach Istanbul. Dabei dürfte es laut Diplomaten auch um diese Finanzforderung gehen. Einen Zeitplan zur Umsetzung des Plans, der vor allem die Lebensbedingungen der zwei Millionen Flüchtlinge in der Türkei verbessern soll, gibt es laut Merkel noch nicht.

Tusk: "So einfach ist das"

Der Aktionsplan sei ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung, sagte Tusk. Die Türkei müsse im Gegenzug zu ihren Verpflichtungen stehen. Denn der Plan sei nur sinnvoll, wenn er den Zustrom von Flüchtlingen eindämme. Grundlage der Vereinbarung sei der Grundsatz, "dass wir helfen und uns auch geholfen wird. So einfach ist das."

Die Türkei gilt als Schlüsselland zur Eindämmung des Flüchtlingszustroms. Wegen der türkischen Luftangriffe auf die kurdische Arbeiterpartei PKK und des Vorgehens gegen Journalisten hatten sich die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU aber zuletzt deutlich abgekühlt. Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu hatte in einem TV-Interview gesagt, dass die Regierung Visa-Erleichterungen für türkische Staatsbürger in der EU ab der ersten Jahreshälfte 2016 wolle und nicht erst ab 2017. Andernfalls werde man keine in der EU abgelehnten Asylwerber aufnehmen.

Es sei vereinbart worden, die Lockerung der Visa-Pflicht für türkische Bürger zu beschleunigen, sagte Juncker. Dass hänge aber davon ab, wie effizient die Flüchtlingsströme gebremst würden. Und dabei würden auch keine Kriterien aufgeweicht. "Es kann keine Visa-Liberalisierung geben, wenn es keine Kontrollen gibt, wenn die Türkei die Bedingungen nicht einhält", sagte der französische Präsident François Hollande.

In die stockenden Verhandlungen für einen EU-Beitritt der Türkei soll wieder Bewegung kommen. Seit zehn Jahren wird mühsam verhandelt, bisher wird aber nur über 13 von insgesamt 35 Politikbereichen überhaupt gesprochen. Acht Bereiche liegen wegen des Zypern-Konflikts auf Eis.

Mehr Befugnisse für Frontex

Nach der Einigung auf den Aktionsplan seien weitere Verhandlungen über die Umsetzung nötig, sagte Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ). Die Unterschiede zwischen EU und Türkei seien klar, "aber dass man hier zusammenfindet, hat durch den Prozess der letzten Tage gute Chancen bekommen".

Tusk zufolge einigte sich der Gipfel auch darauf, der Grenzbehörde Frontex die Möglichkeit zu geben, selbst Abschiebeflüge für Flüchtlinge anzuordnen, die nicht schutzberechtigt sind. Gleichzeitig soll die Behörde stärker bei der Grenzsicherung eingesetzt werden. Die EU-Mitgliedsstaaten seien bereit, hunderte weitere Grenzschützer und Asylexperten für Registrierungszentren in Italien und Griechenland bereitzustellen.

Die Staats- und Regierungschefs debattierten auch kontroverse Themen wie die gemeinsame Asylpolitik und Registrierungszentren (Hotspots). Umstritten ist das Vorhaben der EU-Kommission, einen dauerhaften Schlüssel zur Verteilung von Flüchtlingen festzulegen. "Wir können ja nicht alle sechs Monate wieder von vorne anfangen", sagte Juncker. Die bisher vereinbarte Verteilung von 160.000 Flüchtlingen auf die EU-Staaten beruht auf einer Notfallregelung.

Visegrad dagegen

Es habe eine intensive Diskussion gegeben, sagte Faymann, und das bereits bei einer harmlosen Formulierung. "Die Befürworter sind die Betroffenen, und die Gegner sind die Visegrád-Staaten", so Faymann – also Polen, Ungarn, die Slowakei und Tschechien. Ohne einen permanenten Verteilungsmechanismus mache das Konzept der Hotspots keinen Sinn, so der Bundeskanzler.

Auch Merkel räumte ernste Meinungsverschiedenheiten ein. Es habe "sehr ehrliche Diskussionen" gegeben. Mehrere osteuropäische Staaten und Spanien hatten sich bei dem Treffen energisch gegen einen deutsch-schwedischen Vorstoß gewehrt, das Ziel des dauerhaften Umverteilungsmechanismus über die vereinbarte Zahl von 160.000 Flüchtlingen hinaus in die Schlussfolgerungen des Gipfels zu schreiben. Aufgenommen wurde stattdessen nur eine sehr allgemeine Formulierung: Es gebe weitere dringende Handlungsfelder, die weiterer Diskussion bedürften, "darunter die Kommissionsvorschläge".

Überschattet wurde das Spitzentreffen von einem tödlichen Zwischenfall an der Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei. Ein Flüchtling sei bei Handgreiflichkeiten mit einer Gruppe bulgarischer Grenzschützer erschossen worden, sagte eine Sprecherin des bulgarischen Innenministeriums der AFP. Der Vorfall ereignete sich demnach in der Nähe der südostbulgarischen Kleinstadt Sredez. Der Tote kam nach erster Einschätzung aus Afghanistan. Bulgariens Regierungschef Boiko Borissow erfuhr davon und verließ den Gipfel vorzeitig. Tusk sagte: "Das ist das nächste Argument dafür, wie wichtig unsere Diskussion heute Abend war." (APA, AFP, 16.10.2015)