Neue Zürcher Zeitung, 16.10.2015

http://www.nzz.ch/meinung/kommentare/der-tiefe-fall-des-tuerkischen-kissinger-1.18630453

Nach dem Anschlag in Ankara

Der tiefe Fall des «türkischen Kissinger»

Es ist noch gar nicht lange her, da wurde Ahmet Davutoglu auch im Westen als Intellektueller gefeiert. Heute verheddert er sich in den Widersprüchen seiner Politik.

Kommentarvon Daniel Steinvorth

Es ist noch gar nicht so lange her, da wurde Ahmet Davutoglu im Westen als «türkischer Kissinger» gefeiert, als «weitsichtiger Stratege» und «herausragender Intellektueller». Der heutige türkische Ministerpräsident und frühere Aussenminister galt als Präsident Erdogans Geheimwaffe. Bei einigen seiner aussenpolitischen «Visionen», die er vor erlesenem Publikum verkündete (etwa einer Türkei der «strategischen Tiefe», die «null Problemen mit ihren Nachbarn» habe), kamen Türkei-Beobachter aus dem Schwärmen nicht heraus.

Ins Gegenteil verkehrteVisionen

Spätestens nach seinem Amtswechsel im vergangenen Jahr hat die Faszination für Davutoglu nachgelassen: Als Regierungschef kann der kleine Mann mit dem Schnauzbart seinem Übervater Recep Tayyip Erdogan in Sachen Massenbegeisterung nicht das Wasser reichen. Zu blass wirkt der Ministerpräsident auf grosser Bühne. Eigene Akzente, abweichend von Erdogans islamisch-nationalistischer Restaurationsagenda, setzte er ohnehin nicht. Und seine Visionen verkehrten sich ins Gegenteil: Statt «null Problemen» hat die Türkei heute mit so gut wie jedem Nachbarn ein Zerwürfnis. Von den inneren Spannungen ganz zu schweigen.

Endlose Fragen

Nach dem schwersten Terroranschlag in der Geschichte der Türkei, der am vergangenen Wochenende über hundert Tote forderte, geriet seine Regierung national wie international unter Beschuss. Wie konnte diese unfassbare Katastrophe geschehen, wie konnte der allmächtige Geheimdienst MIT – von Erdogan und Davutoglu mit viel Geld und Kompetenzen aufgepäppelt – sie nicht voraussehen? Gab es Drohungen, die nicht ernst genommen wurden; Hinweise, denen nicht nachgegangen wurde? Oder, schlimmer noch: Könnten Teile des Sicherheitsapparates, die aus ihrem Hass gegen Kurden, Linke und Aleviten kein Hehl machen, mit den Attentätern kooperiert haben?

Man könnte noch endlos weiterfragen, man könnte etwa auf den Pfusch der Ermittler vor Ort zu sprechen kommen, die den Tatort so eilig sperrten und unsauber zurückliessen, dass Passanten noch zwei Tage später Leichenteile fanden. Man könnte sich fragen, warum der IS bis heute kein Bekennerschreiben veröffentlicht hat. Und vor allem, warum die mutmasslichen IS-Selbstmordattentäter, die den Behörden offenbar bekannt waren, nicht rund um die Uhr beschattet wurden.

PKK – der geeignetere Feind

Ja, es gebe eine Liste potenzieller Selbstmordattentäter, räumte Davutoglu in einem Fernsehinterview ein. Solange diese ihre Pläne aber nicht in die Tat umsetzten, könne man auch nichts unternehmen. «Wir können niemanden festnehmen, solange wir nicht Belege in der Hand haben.» Die Türkei, so Davutoglu, sei schliesslich ein «demokratischer Rechtsstaat». Wie man einen Selbstmordattentäter nach vollzogener Straftat verhaften kann, verriet er nicht. Und ebenso wenig, warum präventive Festnahmen in zahlreichen anderen Fällen immer wieder vorgenommen werden – in einem Land, in dem Journalisten schon für einen regierungskritischen Tweet ins Gefängnis wandern.

Dass der zu allem schweigende IS eine Rolle bei dem Anschlag spielte, steht für die Regierung mittlerweile fest. Es wäre auch – trotz dem Schweigen – plausibel.

Aber: nur der IS? Nein, so Davutoglu am Mittwochabend gegenüber der Presse. Tatsächlich habe sich der IS im Vorfeld im nordsyrischen Hasaka mit Vertretern des syrischen Regimes und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) an einen Tisch gesetzt und den Anschlag koordiniert. Die Erzfeinde hätten sich nur für diesen einen Zweck verbündet. «Terrororganisationen», so sekundierte der Regierungssprecher Numan Kurtulmus, «spielen sich eben manchmal auch die Bälle zu.» Auch hier verriet der Ministerpräsident keine Details.

Geschenkt also, dass die PKK noch nie einen Anschlag in dieser Grössenordnung auf Zivilisten verübt hat und wahnsinnig sein müsste, ihn ausgerechnet auf prokurdische Demonstranten zu verüben. Geschenkt auch, dass die PKK bis vor einigen Monaten noch Friedensgespräche mit der Regierung führte (und sie irgendwann wieder führen wird). Die PKK ist der geeignetere Feind. Wer will schon eingestehen, dass die lange geduldeten Extremisten des IS ihre Herren beissen, wenn sie von der Kette gelassen werden? Das würde obendrein nur Wählerstimmen kosten.