Frankfurter
Rundschau, 16.10.2015
Erdogan hat eine neue Wahlhelferin Von Frank Nordhausen Weder die Kurden noch die Flüchtlinge in der Türkei erwarten sich viel von der deutschen Kanzlerin. Vor allem einer profitiert von dem Besuch: Der Wahlkämpfer Recep Tayyip Erdogan. In der südostanatolischen Großstadt Cizre machen sich die Menschen derzeit keine Gedanken um den Besuch von Angela Merkel in Istanbul. „Davon erwarte ich nichts“, sagen sie, wenn man sie fragt. Natürlich haben sie von der europäischen Flüchtlingskrise gehört, aber sie quälen derzeit andere Sorgen: vor allem die eskalierende Gewalt durch den wieder aufgeflammten Bürgerkrieg zwischen der Armee und der Kurdenguerilla PKK, bei dem allein in Cizre seit Ende Juli schon 22 Zivilisten starben. Das Flüchtlingsproblem kennen die Menschen aus eigener Anschauung, denn in der türkischen Kurdenregion gibt es nicht nur riesige staatliche Lager für arabisch-sunnitische Flüchtlinge, sondern auch kommunale Lager für insgesamt rund 30 000 Jesiden aus dem Irak, die von den kurdischen Kommunen mit ihren beschränkten Mitteln unterhalten werden. „Es ist sinnlos, in der Türkei zu bleiben“, sagt der 25-jährige Mirza Isho, der wie andere Jesiden aus dem Sindschargebirge erst in die nordirakische Stadt Dohuk und dann in die Türkei flüchtete. Jetzt lebt er in einem Lager bei Cizre, wo „die PKK“, wie er sagt, für knapp tausend Jesiden sorgt. Nationale Interessen über alles? Weil sie in den Camps keine Perspektive für sich sehen, erklären jesidische Flüchtlinge in der Türkei oft, dass sie nach Deutschland wollten, wo viele ihrer Verwandten leben. Rund 500 von ihnen versuchten Ende Juni, mit gemeinsamen Märschen an die Landesgrenze zu Bulgarien ihre Aufnahme in der EU zu erzwingen. Die türkische Polizei stoppte sie und brachte sie zurück in die Lager. Jetzt wollen viele versuchen, den gefährlicheren Weg über das Mittelmeer auf die griechischen Inseln zu nehmen. Die Jesiden sind vielleicht nur ein kleiner Teilaspekt der großen Flüchtlingsfrage, über die Angela Merkel am Sonntag mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu sprechen will. Nicht nur die türkischen Bürger, sondern auch die Medien sind ein wenig ratlos ob dieses überraschenden Blitzbesuches. Sie wundern sich nicht nur über den Zeitpunkt zwei Wochen vor einer wichtigen Parlamentswahl, sondern auch über das plötzliche Interesse der Europäer an ihrem Land, das im Beitrittsprozess zur EU bislang brüskiert und hingehalten wurde. In einer Analyse schreibt der Chefredakteur der liberalen „Hürriyet Daily News“, Murat Yetkin: „Wie sollen wir Merkels plötzliche Wiederentdeckung der Bedeutung der Türkei interpretieren? Sollen wir denken, dass ihre Aufwartung bei Erdogan (…) lediglich ein Beispiel für Heuchelei ist? Oder kann es sich dabei um das Stück ‚Nationale Interessen über alles‘ handeln?“ Kommentatoren fragen sich, wieso sich die EU dermaßen kompromittiert und die Türkei als ihren Torwärter beschäftigen will, statt ihr eigenes Haus in Griechenland, Italien oder Bulgarien endlich in Ordnung zu bringen. Natürlich registrieren sie, dass die EU plötzlich auf die Hilfe Ankaras angewiesen scheint, aber sie verstehen die aus ihrer Sicht unwürdige Art des Vorgehens nicht. So spekuliert die linkskemalistische Zeitung „Cumhuriyet“, dass die deutsche Kanzlerin Präsident Erdogans Zustimmung zur Flüchtlingsbegrenzung benötige, „um ihren heimischen Popularitätsverlust wettzumachen“. Andere sehen in Merkels Aufwartung einen unangemessenen Eingriff in den türkischen Wahlkampf, der den immer autoritärer agierenden Präsidenten Erdogan, dessen Partei sich schon vor dem Anschlag von Ankara in einem Stimmungstief befand, innenpolitisch aufwerten könnte. Erdogan hat natürlich die Chance ergriffen und bereits mit dem Feilschen begonnen. Das spiegelt sich auch in dem Mini-Kompromiss wider, den man mit der EU gefunden hat und der vor allem eine bessere Ausstattung der türkischen Flüchtlingslager vorsieht. Was Erdogan fordert Dabei sind die Lager gar kein so großes Problem, denn die staatlichen Camps sind hervorragend ausgestattet. Nur die Ärmsten der Armen bleiben dort, die anderen fahren nach Izmir, bezahlen einen Schleuser und setzen nach Lesbos über. „Sie verlassen die Türkei, weil sie keine Zukunft für sich hier sehen, denn die Türkei hat weder eine Asyl- noch eine Integrationspolitik“, sagt der Migrationsforscher Murat Erdogan aus Ankara. Die Türkei kann zwar in der Asylfrage noch viel tun, sie kann auch die Grenzkontrollen verbessern, aber sie kann als Schwellenland mit hoher Arbeitslosigkeit auf Dauer nicht Hunderttausende ausländischer Billigarbeiter als Konkurrenz für die eigene Bevölkerung tolerieren. Unterdessen legt Erdogan die Latte der Forderungen im Vorfeld des Merkel-Besuchs so hoch es geht: weitgehende Visafreiheit für Türken im Schengen-Raum, Einrichtung von Sicherheitszonen in Syrien, Zugriff auf EU-Gelder für seinen klammen Staat. Ministerpräsident Davutoglu hat seinerseits das kaum verhüllte europäische Ansinnen, Hunderttausende Flüchtlinge in der Türkei zu internieren, mit dem klaren Satz „Wir wollen keine Konzentrationslager“ zurückgewiesen. Mit ihrer plötzlichen Wiederentdeckung der Bedeutung der Türkei manövriert sich die EU ebenso in eine Sackgasse wie mit ihrer kurzsichtigen Nahostpolitik insgesamt. Derzeit leben bereits mehr als zwei Millionen Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak in der Türkei außerhalb der Lager, die ihren Weg nach Westen finden werden, wenn sie es wollen. Profitieren werden die Schleuser, deren Preise bei massierten Grenzkontrollen weiter steigen werden. Viel sinnvoller als das kurzsichtige Starren aufs das Nächstliegende wären daher nachhaltige Maßnahmen, die auch unmittelbar dazu beitragen könnten, dass Hunderttausende Flüchtlinge gar nicht erst ins Transitland Türkei reisen. Wenn man Flüchtlingslager verbessern will, dann sollte man das beispielsweise im Nordirak tun. Dort leben rund 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge und aus Syrien geflohene Kurden unter furchtbaren Umständen. Im Nordirak zu helfen, würde die sicher zu erwartende neue Flüchtlingswelle wirksam eindämmen. Unter den gegebenen Umständen wäre es eine Überraschung, wenn der Besuch Merkels nicht einen neuen Imageschaden für Deutschland und die EU bedeutete, während er dem türkischen Präsidenten Erdogan eine Win-Win-Situation schenkt, die ihm neue innenpolitische Spielräume eröffnet. Die Kurden der Türkei aber warnen davor, sie nicht für kurzfristige und unkalkulierbare Vorteile wieder einmal den „übergeordneten Interessen“ zu opfern. Es scheint, dass sich die deutsche und europäische Außenpolitik gerade mächtig in den Fallstricken des Nahen Ostens verheddert. Armenien-Resolution Die Fraktionen von
CDU/CSU und SPD haben die Arbeit an einer Resolution gestoppt, die den
Völkermord an den Armeniern als Völkermord bezeichnet. Der „Spiegel“ berichtete
am Freitag, die zweite und dritte Lesung der umstrittenen Resolution solle
möglichst lange hinausgezögert werden. Ziel sei, die Türkei nicht zu provozieren,
um eine erwartete Kooperationsbereitschaft in der Flüchtlingsfrage nicht
zu gefährden.
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