Frankfurter
Rundschau, 16.10.2015 Wie die türkische Polizei Kurden terrorisiert Von Frank Nordhausen Ein totes Mädchen und eingeschüchterte Einwohner: Was FR-Korrespondent Frank Nordhausen in der Kurdenhochburg Diyarbakir erlebt, lässt bezweifeln, dass die Türkei ein sicherer Herkunftsstaat ist. Das getrocknete Blut der zwölfjährigen Helin Hasret Sen ist noch immer auf dem Pflaster zu sehen, vor der Hauswand, an der sie erschossen wurde. Sie starb am Montag zwischen zwei und drei Uhr nachmittags, keiner der vielen Zeugen hat auf die Uhr geschaut. Doch die Beobachter, Anwohner aus der Straße, sagen alle: „Es war die Polizei, die das Mädchen getötet hat. Sie haben ihm einfach in den Kopf geschossen. Wir haben es mit eigenen Augen gesehen.“ Es ist Mittwochmorgen in der Altstadt von Diyarbakir, der uralten Kurdenmetropole im Südosten der Türkei. In der Nacht hat der Provinzgouverneur eine viertägige totale Ausgangssperre über das Altstadtviertel Sur aufgehoben, erstmals können die Menschen wieder aus ihren Häusern, können die Angehörigen von außen hinein, können Journalisten sich ein Bild der Lage machen. Während der Sperre hörte man von Zeit zu Zeit Maschinenpistolen feuern, aber es gab keine unabhängigen Informationen darüber, wer dort schoss und was in diesem Stadtviertel des EU-Beitrittskandidatenstaates wirklich vor sich ging. Die Polizei und die islamisch-konservative Übergangsregierung in Ankara erklärten, dort würden die Sicherheitskräfte gegen Terroristen vorgehen, die zur Kurdenguerilla PKK gehörten und Polizisten ermordeten. Um sie dingfest zu machen, sei die Ausgangssperre nötig. Die Altstadt sei eine Hochburg der PKK-Terroristen. Wie immer im Krieg ist es auch in Sur schwer, die Wahrheit zu ermitteln. Doch der Augenschein und die frischen Eindrücke der Bewohner, die noch ungefiltert sind durch politische Deutungen, lassen Konturen der Ereignisse deutlich werden. Das Altstadtviertel mit seinen überwiegend ärmlichen Bewohnern ist als kurdisches Widerstandsnest bekannt, und zweifellos gab es hier Kämpfe. Um acht Uhr morgens sind die Spuren der Auseinandersetzungen nahe der 1400 Jahre alten „Ulu Cami“, der Großen Moschee, noch nicht beseitigt. Müll, Scherben, Patronenhülsen Viele der engen Gassen in dem verwinkelten, unübersichtlichen Distrikt wurden von Rebellen mit Barrikaden aus Steinen, Sandsäcken und tiefen Gräben so abgesperrt, dass die gepanzerten Einsatzfahrzeuge der Polizei nicht hindurchkamen. Überall liegt Müll auf dem Pflaster, Scherben, Patronenhülsen. Männer fegen den Boden, Bagger rollen an, um die Barrikaden zu beseitigen und die Gräben zu schleifen. Ladenbesitzer kehren die Scherben ihrer Schaufenster zusammen. An den Hauswänden prangen kurdische und türkische Graffiti, die die PKK und deren Jugendorganisation „Bewegung der revolutionären patriotischen Jugend“ (YDG-H) preisen. „Berxwadan – Widerstand YDG-H!“ Auf kleinen Hockern sitzen fünf alte Männer in der Morgensonne vor einer Teestube und erzählen davon, wie sie die vergangenen Tage erlebt haben. Sie bitten darum, ihre Namen nicht zu nennen und ihre Gesichter auf Fotos unkenntlich zu machen – so wie die meisten kurdischen Einwohner von Sur, mit denen wir sprechen können. Sie haben Angst vor dem türkischen Staat, den sie als Gegner empfinden. „Wenn mein Foto in der Zeitung erscheint, kommt die Polizei, steckt mich ins Gefängnis, und ich komme nie wieder da raus“, sagt der 60-jährige Pensionär Ahmet*. Am Samstag um fünf Uhr morgens habe die Aufstandspolizei das Viertel komplett abgeriegelt, berichtet er. Keiner durfte mehr aus dem Haus. Der Strom wurde abgestellt, die Wasserleitungen zerstört, so dass die Leute nichts mehr zu trinken hatten. „Wir konnten kein Essen mehr einkaufen. Viele Leute hungerten. Dann hat die Polizei Straße für Straße durchkämmt. Hat auf Mauern und Fenster gefeuert, Türen eingetreten, Pfeffergas verschossen, die Menschen bedroht und beschimpft. Schauen Sie, kein einziges Fenster hier ist mehr intakt. Es war absolut lebensgefährlich.“ Tatsächlich sind die Mauern in vielen Gassen von Einschlägen übersäht, die Fenster gesplittert. Aber das Pflaster ist auch aufgerissen, die Barrikaden sind nicht von selbst entstanden. Musste die Polizei nicht die staatliche Ordnung in einem Gebiet wiederherstellen, in dem seit Wochen jugendliche Militante das Sagen hatten? Ein Viertel, in dem es vor nicht ganz einem Jahr Lynchmorde an Andersdenkenden gab, an religiösen Extremisten, die PKK-Militante für Anhänger der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) hielten, welche damals gerade die syrische Kurdenstadt Kobane belagerte? Der alte Mann zupft an seinem grauen Schnauzer. Die Barrikaden seien zum Schutz der Bevölkerung vor der Polizei errichtet worden, sagt er. Ansonsten hätten die jungen Leute keine Gewalt angewendet, „es wäre auch sinnlos gegen die schwer bewaffnete Staatsmacht“. Außerdem habe die PKK nach dem Terroranschlag von Ankara die jugendlichen Rebellen angewiesen, sofort mit dem Kampf aufzuhören. „Trotzdem hat die Polizei weiter geschossen.“ Ahmet geleitet uns durch die engen Gassen. Er weist auf faustgroße Löcher in Hauswänden hin, Spuren des Einsatzes schwerer Waffen durch die Sicherheitskräfte. Er führt in eines der typischen burgähnlichen, aus schwarzem Basalt errichteten Häuser. Im Hof stehen kurdische Frauen mit bunten Kopftüchern und langen Röcken. Sie erzählen, dass die Polizei am Sonntag die Hoftür und sämtliche Türen im Haus ohne Warnung aufgebrochen habe. Die Frauen hätten sich dann flach auf den Boden legen müssen. „Mir hielt einer eine Waffe direkt an den Kopf und beschimpfte mich als dreckige Armenierin“, sagt die etwa 50-jährige Rojda. „Ich hatte Angst um mein Leben und wurde ohnmächtig.“ Die Beamten hätten einen jungen Mann gesucht, der angeblich in ihr Haus geflüchtet sei. „Aber hier war niemand.“ Ähnliche Geschichten erzählen nahezu alle, die man fragt. Sie berichten von Scharfschützen der „Özel Harekat“, der Spezialpolizeikräfte, die auf jede Bewegung reagiert und sofort gefeuert hätten, wenn sich etwas auf der Straße bewegte. Sie erzählen von brutalen Übergriffen. Von scharfem, Erstickungsanfälle produzierenden Tränengas, das in alle Räume drang und zu Asthmaanfällen und Herzattacken führte. Von Schlägen. Von jungen Männern, die abgeführt wurden, nur weil sie junge Männer und damit verdächtig waren. Frauen berichten, dass Polizisten ihnen androhten, sie zu vergewaltigen. Graffiti mit rechtsextremen Parolen Dass die Vorwürfe nicht völlig aus der Luft gegriffen sind, darauf verweisen Graffitis an den Wänden, die die Polizei hinterlassen hat. Die türkischen Staatssymbole Stern und Sichel, die drei Sicheln der türkisch-nationalistischen Grauen Wölfe, Sprüche wie: „Die türkische Republik ist überall!“. Was für ein Staat sei das, fragt Ahmet. „Er bricht in unsere Häuser ein und zerstört sie!“ Kaum etwas hat die Einwohner mehr verstört, als dass die Anti-Terror-Einheiten die elegante Fatih-Pascha-Moschee aus dem Jahr 1554 massiv beschädigten. Gewehrsalven haben die reich verzierte Fassade durchlöchert, der Gebetsraum des Imam wurde verwüstet – Bilder wie aus dem syrischen Bürgerkrieg. Die Antiterror-Einheiten hätten anschließend auf dem Minarett einen Scharfschützen platziert, sagen die Nachbarn. „Wer das tut, kann kein Muslim sein!“, ruft ein alter Kurde. Er glaubt, dass die Polizeioperation in Sur genauso wie der verheerende Anschlag in Ankara mit mehr als hundert Toten die Rache des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan dafür seien, dass die Kurden ihm bei der Parlamentswahl im Juni kollektiv ihre Stimmen verweigerten und seine islamisch-konservative Regierungspartei AKP die absolute Mehrheit einbüßte. „Er hasst uns dafür.“ Mitglieder der „revolutionär-patriotischen Jugend“ geben sich nicht zu erkennen, aber die Aggressivität, mit der einige junge Männer reagieren, wenn sie meinen, fotografiert zu werden, spricht Bände. Reden wollen die meisten nicht. Nur einer plaudert, spricht von rund 200 Kämpfern, „die unser Viertel schützen“, aber schlecht bewaffnet seien: „Sie haben nur ganz wenige Kalaschnikows und kaum Munition.“ Aber sie haben Sprengstoff. Nahe der Fatih-Pascha-Moschee hat eine Explosion einen Krater in die Gasse gepflügt, den Arbeiter gerade mit Kies zuschütten. Hier fuhr ein Polizeiauto über eine Sprengfalle und flog in die Luft. Ein Beamter verlor sein Leben, sechs wurden teils schwer verletzt. Nicht alle im Viertel sind mit diesen Methoden einverstanden. „Wir wollen das Chaos nicht“, sagt die 30-jährige Dicle. Sie glaubt, dass der Grund für die Polizeigewalt die Barrikaden der PKK-Jugend seien. „Hier haben viele Leute die Nase voll von der Gewalt.“ Viele Ladenbesitzer, die bei der nunmehr zweiten Ausgangssperre erneut schwere Geschäftseinbußen haben, denken ähnlich. Sie wollten in Ruhe ihren Geschäften nachgehen und ihre Familien ernähren können. Tatsächlich steht die Polizei in Sur und anderen ähnlichen Stadtvierteln des kurdischen Südostens vor einer fast unlösbaren Aufgabe, seit die PKK vor zwei Monaten nach der gegenseitigen Aufkündigung eines zweijährigen Waffenstillstandes den jahrzehntelangen Konflikt mit der Armee auch in die Städte trug. Der AKP-Spitzenkandidat von Diyarbakir für die Neuwahlen am 1. November, Galip Ensarioglu, gibt im Gespräch zu bedenken, dass kein Land bewaffnete Aufständische in seinem Staatsgebiet tolerieren könne. „Aber es kann auch nicht sein, dass der Staat wahllos Leute umbringt“, sagt der Bäcker Mohammed, 27. „Das alles macht die Leute nur umso wütender.“ Sieben Zivilisten sollen in Sur während der viertägigen Ausgangssperre gestorben sein, erklären kurdische Nachrichtenagenturen. Offizielle türkische Angaben gibt es nicht. Mohammed hat direkt beobachtet, wie die zwölfjährige Helin Hasret Sen nur rund 50 Meter von seiner Backstube entfernt gestorben ist. Der sinnlose Tod des kleinen Mädchens hat das Potenzial, die Türkei erneut tief zu erschüttern. Dem behördlichen Verbot zum Trotz hatte Mohammed am Montag seine Bäckerei geöffnet, damit sich die Menschen wenigstens mit etwas Essbarem versorgen konnten. Gegen zwei Uhr bildete sich eine lange Schlange von bis zu hundert Frauen und Kindern vor seinem Laden. „Plötzlich fielen Schüsse und ich sah, wie ein kleines Mädchen zu Boden stürzte“, sagt Mohammed. Ein „Panzer“, ein gepanzertes Polizeifahrzeug, stand auf der rund hundert Meter entfernten Wegkreuzung. Als sich Frauen aus der Schlange ihm nähern wollten, hätten die Polizisten auch auf sie geschossen. „Niemand durfte das Mädchen bergen“, sagt Mohammed. Der von der Regierung eingesetzte Gouverneur von Diyarbakir behauptete später, Helin sei von PKK-Schützen ermordet worden. „Das ist eine infame Lüge“, entgegnet ihre Tante Ayse Sen, 37, eine selbstbewusste, unerschrocken wirkende Frau, die am Mittwoch in ein Versammlungshaus außerhalb der Altstadt gekommen ist, wo traditionell Trauerfeiern stattfinden. Endlich konnten die Familie und ihre Verwandten das Haus verlassen und die Trauerrituale begehen. Die Tante sagt, dass ihre Nichte bei Mohammed kaufen wollte, weil sie sehr hungrig war. Sie selbst sei ebenfalls zum Bäcker gegangen, als die Schüsse fielen. Ayse Sen warf sich auf den Boden und als sie sich umblickte, sah sie Helin zusammengesunken in einer Blutlache liegen, nicht mehr als vier Meter entfernt. „Dort hat nur die Polizei geschossen, es gab keine PKK“, sagt sie. Erst eine halbe Stunde später hätten sie und andere Frauen die kleine Leiche bergen können. Helins 35-jähriger Vater Ekrem Sen kann seine Gefühle kaum in Worte fassen. Der gebrochen wirkende, zitternde Mann, von Beruf Taxifahrer, war für eine medizinische Behandlung im Krankenhaus. Die Polizei ließ ihn wegen des Ausgehverbots nicht nach Hause, als er telefonisch von dem Tod seiner Tochter erfuhr. „Ich begreife das nicht: Wer erschießt denn ein Kind?“, fragt er leise. Zwei Cousinen stützen Helins Mutter Nazine Sen, eine zierliche junge Frau, 28 Jahre alt, die gerade aus dem Krankenhaus kommt, um sich von ihrer Tochter, dem ältesten ihrer drei Kinder, zu verabschieden. Nazine Sen erlitt einen Zusammenbruch, als sie vom Tod Helins erfuhr und muss medizinisch betreut werden. In einem langen, bewegenden Monolog klagt sie ihr Leid. Das Leid einer Mutter, die ihr liebstes Kind verlor: Helin, die gerade die Grundschule mit sehr guten Noten abgeschlossen hatte, die jetzt auf die Realschule wechseln und später studieren wollte. Bisher hat Polizei weder die Eltern noch irgendeinen anderen Zeugen des Vorfalls vernommen. Doch diesmal wollen die Kurden von Diyarbakir es nicht hinnehmen, dass Unschuldige erschossen werden, ohne dass es Konsequenzen für die Täter hat. Sie wollen Menschenrechtsorganisationen darum bitten, ihnen einen Anwalt zu bezahlen, um gegen die Polizei und den Staat zu klagen. „Wir werden alles tun, um Gerechtigkeit für Helin zu bekommen“, sagt Ayse Sen. * Alle Namen mit Ausnahme der
Trauerfamilie wurden geändert, sind der Redaktion aber bekannt.
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