welt.de, 16.10.2015

http://www.welt.de/politik/ausland/article147697236/Erdogan-laestert-ueber-Merkel-und-stellt-Forderungen.html

Erdogan lästert über Merkel und stellt Forderungen

Der türkische Präsident Erdogan tritt immer selbstbewusster auf. Die EU braucht ihn für ihre Flüchtlingspolitik. Erst fordert er von der EU drei Milliarden, jetzt mokiert er sich über Angela Merkel.

In der Flüchtlingspolitik führt kein Weg an der Türkei vorbei. Das Land ist eines der Haupttransitländer für Migranten Richtung Europa. Mehr als zwei Millionen Flüchtlinge allein aus Syrien sind bereits in der Türkei angekommen. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan weiß das und agiert selbstsicher.

Die EU hatte ihm eine Milliarde Euro angeboten, um die Flüchtlinge zu versorgen. Erdogan forderte drei Milliarden Euro (Link: http://www.welt.de/147672207) . Die Entscheidung darüber steht noch aus.

Und er schlägt gegenüber der EU schärfere Töne an. "Wenn es ohne die Türkei nicht geht, warum nehmt ihr die Türkei dann nicht in die EU auf?", fragte Erdogan öffentlich am Freitag in Istanbul. Die Türkei sei schließlich in vielen Punkten weiter als viele EU-Mitgliedsstaaten, etwa in der wirtschaftlichen Entwicklung.

Erdogan ärgert sich über Merkel

Erdogan ging nicht auf den Aktionsplan ein, auf den sich die europäischen Staats- und Regierungschefs geeinigt hatten. Er mokierte sich jedoch über Spekulationen über eine Verleihung des Friedensnobelpreises an Angela Merkel (CDU) in der vergangenen Woche unter anderem wegen ihrer Flüchtlingspolitik.

Dass die Türkei 2,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen habe, "das interessiert niemanden", sagte Erdogan wenige Tage vor dem Besuch der Kanzlerin bei ihm. Merkel wird am Sonntag zu Gesprächen mit Erdogan in Istanbul erwartet.

Die europäischen Staats- und Regierungschefs hatten in der Nacht zum Freitag einen grundsätzlichen Aktionsplan abgestimmt. Die Vereinbarung sieht unter anderem vor, dass als Gegenleistung für schärfere Grenzkontrollen unter anderem die Visa-Pflicht für türkische Staatsbürger schneller gelockert werden soll.

Der schwierige Umgang mit der Türkei

Wie ratlos die EU im Umgang mit Erdogan ist, lässt sich an der Besuchsfrequenz ihrer Spitzenpolitiker ablesen. Europäische Regierungschefs kommen nur noch selten in die Türkei, seit Erdogan im Sommer 2013 die Gezi-Proteste niederschlagen ließ.

Am Sonntag macht Bundeskanzlerin Merkel Erdogan erstmals seit Februar 2013 ihre Aufwartung. Für Erdogan ist der Besuch eine Aufwertung – kurz vor Parlamentswahlen, die letztlich auch über sein Schicksal entscheiden könnten.

Erdogan – den das Magazin "Foreign Policy" kürzlich als "anatolische Version des russischen Präsidenten Wladimir Putin" beschrieb – bekommt aus Europa seit Langem vor allem Kritik zu hören. Nun tritt die EU plötzlich als Bittsteller bei ihm auf, weil sie erkannt hat, dass sein Land in der Flüchtlingskrise eine Schlüsselrolle spielt. Die allermeisten der Schutzsuchenden kommen über die Türkei.

Die zweitgrößte Armee der Nato

Besonders vom Willen der politischen Führung in Ankara dürfte abhängen, ob der Flüchtlingszustrom gebremst werden kann. Dass die Türkei – die über die zweitgrößte Armee in der Nato verfügt – ihre Grenzen nicht sichern kann, halten westliche Sicherheitsexperten für nicht besonders glaubwürdig.

Erste Signale eines härteren Durchgreifens gibt es möglicherweise bereits: Die Regierung teilte kürzlich mit, die Küstenwache habe in den vergangenen sechs Monaten 60.000 Flüchtlinge "gerettet". Gemeint dürfte gewesen sein: deren Überfahrt in Richtung EU gestoppt. Zur Rücknahme von Flüchtlingen aus Drittstaaten wie Syrien und Afghanistan, die in die EU einreisen, ist die Türkei per Abkommen erst ab Oktober 2017 verpflichtet.

Die Türkei dürfte für ihr Entgegenkommen eine lange Wunschliste vorlegen. Um die von der Türkei jetzt beim EU-Gipfel geforderte Unterstützung (Link: http://www.welt.de/147672207) in Höhe von drei Milliarden Euro wird es dabei auch, aber nicht nur gehen. Hohe Priorität hat für die Türkei, dass die Visapflicht für ihre Bürger für den Schengen-Raum so bald wie möglich aufgehoben wird. Sollte Merkel bei ihrem Besuch Signale in diese Richtung aussenden, dürften Erdogan und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu das in politisches Kapital im Wahlkampf ummünzen.

Bürgerkriegsähnliche Zustände im Konflikt mit der PKK

Ein Sieg für Erdogan wäre auch, wenn die Türkei als sicheres Herkunftsland eingestuft würde, wofür etwa Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) plädiert. Dazu passt schlecht, dass der Konflikt mit der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) seit Juli wieder voll entbrannt ist. Im Südosten des Landes herrschen teilweise wieder bürgerkriegsähnliche Zustände. Kaum ein Tag vergeht ohne Tote.

Mit einer solchen Einstufung würde Erdogans Herrschaft außerdem das Gütesiegel einer funktionierenden Demokratie verliehen, was die Opposition für einen schlechten Scherz halten dürfte. Aus ihrer Sicht hat Erdogan die Neuwahlen im November vor allem deshalb ausgerufen, weil seine islamisch-konservative AKP im Juni die absolute Mehrheit verfehlte. Sollte sich dieses Wahlergebnis nun wiederholen, könnte das den Beginn des Endes von Erdogans Macht markieren.

Merkel kündigte vor der Reise an, auch die Menschenrechte würden bei ihrem Besuch eine Rolle spielen. "Am Sonntag werden alle Fragen – von der Lage in Syrien über die Visafreiheit, einen sicheren Herkunfts- und Drittstaat, den gemeinsamen Kampf gegen Terrorismus bis hin zur Situation der Menschenrechte in der Türkei auf den Tisch kommen", hatte sie in ihrer Regierungserklärung am Donnerstag betont.

In Syrien fordert die Türkei seit Langem die Errichtung einer Schutzzone für Flüchtlinge. Wie diese Zone aber geschaffen und vor allem verteidigt werden soll, weiß niemand. In der Nato ist dafür keinerlei Bereitschaft erkennbar. Auf Fortschritte bei den festgefahrenen EU-Beitrittsverhandlungen pochte Ankara schon weit vor der Flüchtlingskrise. Merkel würde bei Erdogan vor allem damit punkten, würde sie ihre ablehnende Haltung zur EU-Vollmitgliedschaft der Türkei überdenken – worauf es allerdings keine Hinweise gibt.