Neue Zürcher Zeitung, 17.10.2015

http://www.nzz.ch/international/europa/gefangen-in-der-eigenen-stadt-1.18631047

Der Anschlag von Ankara verschärft den Kurdenkonflikt

Gefangen in der eigenen Stadt

Sicherheitskräfte ohne Augenmass, radikalisierte Jugendliche und eine standfeste, aber hilflose Oberbürgermeisterin – Diyarbakir schlittert in finstere Zeiten zurück.

von Marco Kauffmann Bossart, Diyarbakir

Gültan Kisanak, die kurdische Oberbürgermeisterin von Diyarbakir, brauchte eine Bewilligung des Gouverneurs, um in ihrer eigenen Stadt das Sur-Quartier zu betreten. An diesem Morgen darf sie lediglich ein paar Strassenzüge besuchen. Spezialeinheiten der Polizei durchkämmen den historischen Stadtkern, ein Labyrinth von Gässchen und ärmlichen Steinhäusern, das eine jahrhundertealte Mauer umschliesst. Das Sonderkommando soll Zellen der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und ihrer Jugendorganisation ausheben.

Zivilisten im Kugelhagel

Kisanak, eine kräftige Frau mit grauem Pagenschnitt und leiser Stimme, trägt zum Gedenken an die Opfer des Terroranschlags von Ankara schwarze Hosen und einen schwarzen Veston. Sie ist gekommen, um sich ein Bild zu machen von den Auswirkungen der Ausgangssperre. In der Lobby des Hotel Liluz an der Süleyman-Strasse trifft sie Anwohner und Geschäftsleute. Man sitzt auf schweren Polstermöbeln, der Kellner serviert türkischen Schwarztee. Normale Gäste hat das Viersternehaus praktisch keine mehr.

Innerhalb eines Tages seien drei unbeteiligte Bewohner ums Leben gekommen, erfährt die Bürgermeisterin, die in ihrer Stadt keine Befehlsgewalt über die Polizei hat. Ein Quartierbewohner wurde von Scharfschützen der Polizei getroffen, als er auf die Dachterrasse stieg, um seine Tauben zu füttern. Im Kugelhagel getötet wurde ein 12-jähriges Mädchen, das sich auf die Strasse wagte, um Brot zu kaufen. Ein Mann in den Sechzigern erlitt einem Herzinfarkt. Wegen der Strassensperren konnte er nicht rechtzeitig ins Spital gebracht werden. Am Vortag erlag zudem ein Polizist, der über eine Sprengfalle gefahren war, seinen Verletzungen.

Im Viertel sind die Rollläden der Geschäfte heruntergelassen. Vor der Razzia wurden der Strom und das Internet abgestellt. Bewaffnete Beamte in Zivil durchsuchen an einer Kreuzung Taschen von Anwohnern und tasten jede und jeden von Kopf bis Fuss ab. Gegenüber stehen zwei «Toma»: die gepanzerten Einsatzfahrzeuge der türkischen Polizei, die zum Strassenbild Diyarbakirs gehören wie Gondeln zu Venedig. Eine Kombination aus Wasserwerfer und Pflug, der Barrikaden von Demonstranten wegschiebt.

Zurück in ihrem Büro, lässt sich Kisanak ihre Empörung über den von der Zentralregierung dirigierten Einsatz kaum anmerken. Doch sie nennt eine Zahl, die Bände spricht: 7000 Sondereinsatzkräfte hätten ein Quartier durchsucht, wo noch 7000 Personen lebten. Aus ganz Westanatolien wurden Polizeifahrzeuge nach Diyarbakir beordert. «Sie sind dermassen mit uns beschäftigt, dass sie es nicht schaffen, die Mitglieder des Islamischen Staats (IS) zu fassen, die sich in der Türkei herumtreiben», merkt Kisanak spitz an.

Die Regierung führt nach eigenem Bekunden einen Zweifrontenkrieg gegen den IS und die PKK. Doch werde mit zwei Ellen gemessen, glaubt Kisanak. Sie stellt nicht in Abrede, dass die PKK nach dem Attentat von Suruc, bei dem im Juli über 30 kurdische Aktivisten getötet worden waren, in einer Racheaktion zwei Polizisten umbrachte. Nur hält sie die Reaktion der Regierung für völlig unverhältnismässig. Statt die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, seien 40 Kampfjets gegen die PKK losgeschickt worden. In der Folge zerbrach ein Waffenstillstand, der mehr als zwei Jahre gehalten hatte. Seither dreht sich in den kurdischen Provinzen Südostanatoliens die Spirale der Gewalt.

Wie für den Anschlag von Suruc machen die türkischen Behörden den IS für das Blutbad vom vergangenen Samstag mitverantwortlich. Allerdings scheut sich die Regierung nach Ansicht Kisanaks, resolut gegen die Jihadisten vorzugehen. Man habe es zugelassen, dass sich der IS in der Türkei einnistete, die Jihadisten ungestört über die grüne Grenze nach Syrien reisten und ihre Verwundeten in der Türkei gepflegt werden. Die Vermutung, dass ein Teil des Staatsapparats seine schützende Hand über die Jihadisten legt, hört man in Diyarbakir wieder und wieder. Gleichzeitig drangsaliere die Polizei die Kurden, als wäre jeder ein potenzieller Terrorist.

Nach dem Doppelanschlag von Ankara brachte der Chef der türkischen Übergangsregierung, Ahmet Davutoglu, eine dürftige Erklärung für das Versagen der Geheimdienste vor. Es habe zwar eine Liste möglicher Selbstmordattentäter vorgelegen. Allerdings könne in einem «demokratischen Rechtsstaat» wie der Türkei niemand festgenommen werden, bevor er nicht eine Straftat begangen habe. Umgekehrt zögert die Justiz nicht lange, prokurdische Politiker zu verhaften, die der Nähe zur PKK bezichtigt werden.

Kisanak, die nach dem Militärputsch von 1980 viereinhalb Jahre im Gefängnis sass, erwartet von der Zentralregierung vor allem eines: Respekt. Enttäuscht wurde sie selbst während der dreitägigen Staatstrauer. Am Flughafen von Diyarbakir sei es verunmöglicht worden, den aus Ankara übergeführten Opfern einen würdigen Empfang zu bereiten. Am Ende eines Trauermarsches setzte die Polizei Tränengas ein und schoss in die Luft. Die Menge hatte sich nach der Prozession nicht sofort aufgelöst.

Die kurdische Politikerin, die wie alle Funktionsträger der Demokratischen Partei der Völker (HDP) und der Schwesterpartei DBP ihr Amt mit einem Mann teilt, trägt diese Vorfälle emotionslos vor. Sie hat sich offenkundig damit arrangiert, dass der Zentralstaat sie zur Befehlsempfängerin degradiert. Doch resignieren oder klein beigeben wird sie kaum. In den achtziger Jahren wollten Gefängniswärter die Kurdin zwingen, sich zum Türkentum zu bekennen. Die Aufseher hetzten einen Schäferhund auf die Unbeugsame und schleiften sie an den Haaren über den Boden.

Mit Pfannen und Steinen

Als sich die Dunkelheit über Diyarbakir legt, schieben im Viertel Baglar Jugendliche Kehrichtcontainer auf die Strasse und setzen sie in Brand. Es beginnt ein Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei, die in gepanzerten Fahrzeugen Stellung bezieht. Jünglinge, einige kaum älter als zehn, werfen Steinbrocken auf die klobigen Gefährte mit den kleinen, vergitterten Fenstern. Die Beamten schiessen mit Tränengas zurück, verlassen aber ihren Schutzpanzer nicht. Ein paar Unbeteiligte huschen vorbei, die Nase mit Tüchern bedeckt; ein hilfloser Versuch, sich gegen das Brennen des Gases zu schützen.

Kaum ist der Spuk vorbei, hämmern die Bewohner des ganzen Quartiers mit Löffeln auf Pfannen und manifestieren damit ihren Unmut gegenüber einem Staat, den sie wie eine Besatzungsmacht empfinden. Schon 2013, als die Gezi-Proteste die Türkei erschütterten, stellte sich mancher abends auf den Balkon und schlug auf Kochtöpfe.

Durch das abermals dunkle Quartier zieht ein strenger Brandgeruch, der sich mit den Tränengasschwaden vermischt. Ein einsames Taxi kurvt im Slalom um die mit Steinen, Scherben und Müll übersäte Fahrbahn. Drei Tage lang streikte die Kehrichtabfuhr, in Reaktion auf den Terrorangriff von Ankara. Es ist erst neun Uhr abends, aber die Strassen sind plötzlich wie leergefegt; nur in einigen Hauseingängen drücken sich Jugendliche herum.

Normalerweise sässen die Leute um diese Zeit draussen, erzählen Einheimische. Doch normal ist nichts mehr in Diyarbakir, seit der Friedensprozesses im Sommer kollabierte. Die Millionenstadt wurde zurückgeworfen in die düsteren achtziger Jahre, als der PKK-Anführer Abdullah Öcalan Ankara den Krieg erklärte. Seit drei Monaten attackieren die Rebellen Polizei und Armee, die Sicherheitskräfte schlagen mit eiserner Faust zurück. Auf ein Waffenstillstandsangebot der PKK nach dem Blutbad in der Hauptstadt ging die Regierung nicht ein. Bloss eine Finte der Terroristen, hiess es aus regierungsnahen Kreisen.

Am nächsten Morgen treffen wir Seydi Firat, einen ehemaliger PKK-Kommandeur, der 1999 dem bewaffneten Kampf abschwor. Nach seiner Rückkehr aus dem Rebellenhauptquartier in den nordirakischen Kandil-Bergen verbüsste er eine fünfjährige Gefängnisstrafe. Jetzt bezeichnet er sich als Friedensaktivist. Versöhnung sei die einzige Lösung, deklariert Firat, doch seinen Pessimismus vermag er nur schlecht zu verbergen. Die vergangenen Monate haben die zaghafte Annäherung zwischen den Kurden und der Regierung beendet. Früher stand die Nichtregierungsorganisation DTK, für die Firat arbeitet, regelmässig im Kontakt mit regierungsnahen Köpfen, jetzt ist der Gesprächsfaden abgerissen. In beiden Lagern schlägt die Stunde der Hardliner.

Die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan prophezeite dem Land nach der Parlamentswahl vom Juni Chaos. Was zunächst als Trotzreaktion anmutete, weil die AKP wegen des starken Zulaufs für die prokurdische HDP zum ersten Mal seit 13 Jahren die absolute Mehrheit verlor, scheint sich jetzt zu bewahrheiten. Die AKP setzte sich mit ihren düsteren Warnungen indes dem Vorwurf aus, dass sie den Kurdenkonflikt schürt, um die Wähler davon abzuhalten, bei der vorgezogenen Wahl vom 1. November erneut der HDP ihre Stimme zu geben. Nach dem regulären Urnengang vom Juni hatte Erdogan wenig Interesse an einer Koalition gezeigt. Als solle das Volk dazu gebracht werden, seinen «Fehler» zu korrigieren.

Firat, der geläuterte PKK-Kämpfer, wurde vor zehn Tagen wegen Verdachts auf separatistische Aktivitäten verhaftet – eine Anspielung auf die PKK. Firat schüttelt bloss den Kopf, zumal die Rebellen ihren Kampf für einen eigenen Staat offiziell aufgegeben haben und stattdessen politische Autonomie innerhalb der türkischen Grenzen verlangen. Nach 24 Stunden liess man den 51-Jährigen laufen. Doch riet ihm der Anwalt, wegen des laufenden Verfahrens keine Aufmerksamkeit zu erregen, vorsichtig zu sein. Firat blieb meist zu Hause – sonst wäre er am vergangenen Samstag für den Friedensmarsch nach Ankara gefahren. Rund die Hälfte der Opfer des schwersten Terroranschlags in der türkischen Geschichte kannte er persönlich.

Firat blickt einen Moment gedankenversunken ins Leere, das Gemetzel von Ankara, wie er es nennt, geht ihm nach. Dann erzählt Firat von einer Begegnung mit Jugendlichen nach seiner Haftentlassung in Istanbul. «Die lachten mich aus und spotteten: Siehst du, was mit einem wie dir passiert, der den Frieden predigt? Er hat ein Verfahren am Hals.» Firat befürchtet, dass nun eine gewaltbereite Generation heranwächst, die auf eigene Faust handelt und Friedensappellen oder Befehlen von PKK-Kommandanten keine Beachtung schenkt. Ein ähnliches Szenario entwirft Tayyip Temel, Chefredaktor der kurdischsprachigen Zeitung «Azadiya Welat». «Die Jungen fühlen eine Notwendigkeit, sich zu bewaffnen und den Kampf nach Diyarbakir und in andere Städte zu tragen.»

Nach vier Tagen haben die Sicherheitskräfte ihre Operation im Stadtteil Sur beendet. Die Absperrgitter sind weggestellt, Strom und Wasser seien wieder angeschlossen, berichtet der Betreiber eines Restaurants. In den Gassen liegen Patronenhülsen, Scherben zerborstener Scheiben und verbogene Gitterzäune der Polizei. Dass in Diyarbakir bald wieder Normalität einkehrt, mag hier niemand glauben.

Gewalt und Repression überschatten den Wahlkampf

kam. Istanbul Nach dem Massaker von Ankara haben die meisten türkischen Parteien ihre Wahlveranstaltungen aus Rücksicht auf die Opfer für mehrere Tage ausgesetzt. Die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) liess verlauten, man werde vor der Parlamentswahl vom 1. November lediglich «Anti-Terror-Manifestationen» abhalten. Die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP), die bei dem Anschlag zwei ihrer Kandidaten verlor, sagte generell Grossanlässe aus Angst vor weiteren Gewalttaten ab. In den kurdischen Provinzen Südostanatoliens ist ein regulärer Wahlkampf angesichts des wieder aufgeflammten Bürgerkrieges ohnehin ausgeschlossen. Beeinträchtigt wird die politische Meinungsbildung in der ganzen Türkei durch eine Welle der Repression gegen kritische Medien – kaum ideale Voraussetzungen für freie und faire Wahlen.

Das Übergangskabinett von Ahmet Davutoglu hat eine Verschiebung des Wahltermins ausgeschlossen. Daran festhalten will auch die HDP, zumal es der regierenden AKP nicht zu gelingen scheint, aus der instabilen Lage im Land Profit zu schlagen. Wählerbefragungen, die allerdings noch vor dem Doppelanschlag in Ankara durchgeführt wurden, deuten darauf hin, dass die islamisch-konservative AKP erneut die absolute Mehrheit verfehlen wird. Laut dem Institut Metropoll kann die Partei von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan mit einem Stimmenanteil von 42,5 Prozent rechnen. Die HDP, die ihre Wählerbasis nicht zuletzt wegen des zunehmend autoritären Kurses Erdogans verbreitern konnte, dürfte erneut die 10-Prozent-Hürde nehmen und verbliebe damit im Parlament.

Sofern sich diese Prognosen als zutreffend erweisen, ähnelte das Ergebnis jenem der Juni-Wahlen. Damit stiege unweigerlich der Druck auf die erfolgsverwöhnte Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, Hand für eine Koalitionsregierung zu bieten.