welt.de, 18.10.2015

http://www.welt.de/debatte/kommentare/article147753383/Erdogans-Tuerkei-ist-neue-Pufferzone-Europas.html

Flüchtlingskrise

Erdogans Türkei ist neue Pufferzone Europas

Das vage Versprechen auf Reiseerleichterungen und neue Kapitel in den EU-Verhandlungen können nicht darüber hinwegtäuschen: Merkel hat die Türkei auf die Rolle eines Grenzschützers zurechtgestutzt. Von Deniz Yücel

Über zwei Millionen Flüchtlinge aus Syrien hat die Türkei aufgenommen. Zwei Millionen, ohne dass dies zu größeren inneren Konflikten geführt hätte. Wenn Angela Merkel für ihre noble Entscheidung, die deutschen Grenzen zu öffnen, für den Friedensnobelpreis ins Gespräch gebracht wird, liegt der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan (Link: http://www.welt.de/139833804) also nicht verkehrt, wenn er auch größere Ansprüche geltend macht.

Dass viele dieser Flüchtlinge unter unwürdigen Bedingungen hausen und als billigste Arbeitskräfte ausgebeutet werden, dass sich die türkische Gesellschaft einredet, diese Syrer würden eines Tages wieder verschwinden – all das ändert nichts daran, dass die Türkei für ihre Flüchtlingspolitik Anerkennung verdient, auch in Form finanzieller Hilfen, wie sie Merkel bei ihrem Besuch in Istanbul versprochen hat.

Doch im syrischen Bürgerkrieg (Link: http://www.welt.de/146670482) spielt die Türkei nicht nur die Rolle des hilfsbereiten Nachbarn. Lange Zeit hat die AKP-Regierung, abgesehen von den Kurden, alles getan und jedem geholfen, der gegen das Assad-Regime kämpfte. Sie wurde Kriegspartei in einem Konflikt, der in Gestalt der Flüchtlinge, aber auch durch die jüngsten Terroranschläge auf sie zurückwirkt.

Ankara träumte den osmanischen Traum

Diese Haltung war Ausdruck einer gewandelten Außenpolitik: Unter dem Eindruck, dass die Europäer die Türken doch nicht haben wollen – ein Eindruck, für den niemand mehr verantwortlich ist als Merkel (Link: http://www.welt.de/147719063) – und angesichts des "arabischen Frühlings", begann man in Ankara, von einer Wiedererrichtung des Osmanischen Reiches zu träumen.

Das Ergebnis: Die Türkei liegt mit allen Nachbarn und allen Großmächten im Clinch – und ist im Innern völlig zerrissen (weshalb das mit dem Friedensnobelpreis für Erdogan doch keine gute Idee wäre).

Diese osmanischen Träumereien sind gescheitert. Auch in Syrien, wo die Kurden und das Assad-Regime inzwischen unter dem Schutz der Amerikaner beziehungsweise der Russen stehen. Die Türkei wollte in Syrien eine "Pufferzone" einrichten, nun wird sie selber zur "Pufferzone".

Das vage Versprechen auf Reiseerleichterungen und das Öffnen von neuen Kapiteln in den zur Farce gewordenen EU-Verhandlungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Merkel die Türkei auf die Rolle eines Grenzschützers zurechtgestutzt hat, wie sie zuletzt Gaddafi für Europa gespielt hat. Dafür darf Erdogan nun darauf hoffen, dass aus Europa weniger Kritik an seiner autoritären Politik (Link: http://www.welt.de/147479140) zu hören sein wird.