Die Presse, 18.10.2015

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Die apokalyptische Welt des Islamischen Staats

Mit seiner Ideologie aus bizarren Endzeitfantasien terrorisiert der IS die Menschen in Syrien und im Irak – und zieht zugleich Tausende in seinen Bann.

von Wieland Schneider (Die Presse)

Jusif Ralaf Jusif denkt nicht daran, aufzugeben. „Ich bin auch während des Genozids mit meiner Familie hiergeblieben“, sagt der braun gebrannte alte Mann mit dem buschigen grauen Schnurrbart. Mit Schrecken erinnert er sich an die dunkle Zeit, als die Extremisten des sogenannten Islamischen Staates (IS) bis auf wenige Kilometer an sein Dorf herangerückt waren. Der IS nahm die gesamte Gegend unter Granatbeschuss. Doch der Jeside wollte sich nicht vertreiben lassen.

Jusif Ralaf Jusif führt zu seinem bescheidenen Besitz. Hinter einem Maschendrahtzaun grasen abgemagerte Schafe. Daneben steht ein Wohnhaus, das zum Teil eingestürzt ist. Der Schaden wurde notdürftig mit einer Zeltplane repariert. Jetzt schlagen zwar keine Granaten des IS mehr ein. Doch der Jeside, seine Familie und seine Nachbarn kämpfen nach wie vor ums Überleben. „Wir brauchen Zelte und Essen“, sagt er. Es fehlt an Gas, Benzin, Mehl, den einfachen Grundnahrungsmitteln.

Der Weiler, in dem Jusif Ralaf Jusif wohnt, liegt einige hundert Meter vom jesidischen Heiligtum von Sherfedîn entfernt. Mit dem Mut der Verzweiflung leistete hier, im nordirakischen Sinjar-Gebirge, eine Gruppe jesidischer Kämpfer Widerstand. Diese letzte, vom IS belagerte Bastion der Jesiden war lange von der Außenwelt abgeschnitten. Mittlerweile wurde der IS an einigen Stellen zurückgedrängt. Doch die abgeschiedene Gegend ist nach wie vor nur schwer zu erreichen.


Spuren der IS-Verbrechen. Die religiöse Minderheit der Jesiden lebt hier seit unzähligen Generationen. Immer wieder gerieten die Angehörigen der alten monotheistischen Religion ins Visier von Fanatikern, wurden in völliger Verkennung ihres Glaubens als „Teufelsanbeter“ verunglimpft. Nun, Anfang des 21. Jahrhunderts, versuchen die Extremisten des IS, die Jesiden endgültig zu vernichten. Im Gebiet von Sinjar wäre ihnen das auch beinahe gelungen.

Nicht weit entfernt vom Dorf, in dem Jusif Ralaf Jusif lebt, sind die Spuren der IS-Verbrechen an den Jesiden zu finden. Nahe der Stadt Hardan wurde ein Massengrab entdeckt. Es konnte noch nicht von Experten geöffnet werden, da es zu nahe an den Stellungen des IS liegt. Immer wieder kommen Menschen aus den umliegenden Dörfern hier vorbei und wühlen in der Erde – in der Hoffnung, auf Spuren ihrer vermissten Angehörigen zu stoßen.

Zwölf Massengräber hat man bisher an der Nordseite des Sinjar-Gebirges entdeckt. Mehrere tausend Jesiden sind Schätzungen zufolge vom IS ermordet worden. Sie wurden Opfer einer mörderischen Ideologie, in der sich die politischen Ideen des sogenannten jihadistischen Salafismus mit enormer Gewaltbereitschaft und bizarren Endzeitfantasien vermischen.

Der Hass des IS richtet sich nicht nur gegen Jesiden. Auch die Schiiten, die Anhänger der zweiten großen Richtung im Islam, stehen im Visier der Extremisten. In seinem Herrschaftsgebiet hat der IS seinen eigenen Terrorstaat, sein sogenanntes Kalifat, errichtet. Dieser Albtraumstaat scheint zugleich das Traumland für tausende junge Menschen zu sein. Junge Männer machen sich auf den Weg, um für das „Kalifat“ und dessen apokalyptische Ideologie zu töten und notfalls auch zu sterben. Sie kommen aus anderen arabischen Staaten – aber auch aus Europa.

Jihadismus als europäisches Problem. Es war eine Frage, die mir überall gestellt wurde, in Iraks Hauptstadt Bagdad, in Nordiraks Kurdenregion, in Syriens Kurdengebieten: Was ist los bei euch in Europa? Warum kommen von euch so viele Verrückte zu uns, die hier töten, Frauen missbrauchen, sich in die Luft sprengen? Es war eine Frage, die alte Denkpositionen auf den Kopf stellte. Denn sie bedeutete: Jihadismus ist nicht nur ein Problem der Nahostregion, das zugleich eine Gefahr für Europa darstellt. Jihadismus ist auch ein europäisches Problem, das von Extremisten aus Frankreich, Deutschland oder Österreich nach Kurdistan, Syrien und in den Irak exportiert wird.

Laut Daten der europäischen Polizeibehörde Europol von Anfang Juli 2015 waren etwa 5000 Personen aus der EU in Syrien und im Irak als Foreign Fighters im Einsatz. Nach Angaben der österreichischen Behörden von Anfang Juli 2015 wurden bisher 233 Personen identifiziert, die Österreich verlassen haben, um beim IS, bei der al-Qaida-Filiale Jabhat al-Nusra oder anderen jihadistischen Gruppen zu kämpfen.

Viele dieser jungen Männer stammen aus muslimischen Familien oder haben sogenannten Migrationshintergrund, viele aber auch nicht. Sie kommen aus christlichen deutschen, österreichischen, britischen, französischen Familien. Die Eltern fühlen sich meist völlig hilflos, wenn sie merken, dass ihre Kinder in den Extremismus abgleiten. Einer, der dann versucht, mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, ist der österreichische Politikwissenschafter Thomas Schmidinger. Gemeinsam mit dem muslimischen Religionspädagogen Moussa al-Hassan Diaw hat er das Netzwerk Sozialer Zusammenhalt gegründet, das Lehrer und Eltern berät und mit den gefährdeten Jugendlichen ins Gespräch kommt.

In all den Fällen, die das Netzwerk bisher betreut hat, stellt Schmidinger bei den betroffenen Jugendlichen eine Gemeinsamkeit fest: „Es sind Leute, die massive Entfremdungserfahrungen in der Gesellschaft gemacht haben. Das reicht von Schulversagen und Liebeskummer bis zum Verlust des Arbeitsplatzes und antimuslimischem Rassismus, den diese Menschen erfahren mussten. Oft fehlte bei den Burschen eine männliche Vorbildfigur. Sie haben das Gefühl, keinen Platz in der Gesellschaft zu haben“, sagt der Schmidinger. „Dann werden sie von den falschen Gruppen abgeholt. Sie bekommen dort das Gefühl, endlich irgendwo dazuzugehören.“

Die gefährdeten Jugendlichen seien keineswegs nur ungebildete Modernisierungsverlierer. Sie stammten auch aus österreichischen Akademikerfamilien. Unter ihnen sind Kinder christlicher Eltern. Die meisten haben einen muslimischen Hintergrund, kommen aber keineswegs aus konservativen Familien. Sie sind „Reborn Muslims“, wie Schmidinger sie nennt. Das heißt: Ein Jugendlicher ist zwar Muslim, aber nicht religiös, und weiß nur wenig oder nichts über den Islam. Dann gerät er an Agitatoren, besinnt sich darauf, Muslim zu sein, und wandelt sich oft binnen kürzester Zeit von einer säkularen Person zu einem Extremisten.

Oliver N. war einer derer, die sich dem IS angeschlossen haben. Der blonde 17-jährige Österreicher mit seinen noch etwas kindlichen Gesichtszügen ist mittlerweile wieder zurück aus dem „Kalifat“ und wurde zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt. Auch Oliver N. stellte sich vor, dass er 72 Jungfrauen im Jenseits bekomme, wenn er als Märtyrer sterbe. „Damals hab ich wirklich daran geglaubt, heute aber nicht mehr“, erzählte er während seines Prozesses am Straflandesgericht Wien.

Eine Welt ohne Grautöne. „Sie sind Kinder unserer Gesellschaft“, sagte der französische Journalist Nicolas Hénin nach seiner Freilassung über die jungen europäischen Jihadisten, die ihn während seiner zehnmonatigen Geiselhaft beim IS bewacht hatten. „Sie sind Produkte unserer Kultur.“

Es ist eine Kultur, in der die Ideologie des IS durchaus Anknüpfungspunkte finden kann. Die bizarre Gedankenwelt der „Foreign Fighters“ gleicht in vielen Aspekten einem Fantasyfilm oder Videospiel. Es ist eine Welt ohne Grautöne, in der es nur Gut oder Böse gibt. Sie wähnen sich in dieser Welt auf der richtigen Seite, sehen sich als heroische Männer, die sich einem gnadenlosen Kampf gegen ein heimtückisches Netzwerk, eine weltweite Verschwörung, stellen müssen.

Die Propagandavideos des IS und sein buntes Online-Propagandamagazin „Dabiq“ verwenden eine Bildästhetik, die an Hollywood-Inszenierungen und westliche Jugendzeitschriften erinnert. „Dabiq“ ist nach einem mystischen Ort in Syrien benannt. Die Kleinstadt hat etwas mehr als 3000 Einwohner und liegt im Nordwesten Syriens, zehn Kilometer von der türkischen Grenze entfernt. Ähnlich den apokalyptischen Schilderungen in der Bibel ist auch im Islam in Hadith Nummer 6924 von einem letzten Kampf zwischen Gut und Böse die Rede. Darin heißt es: „Die letzte Stunde wird nicht kommen, bevor die Römer in al-A'maq oder in Dabiq landen. Eine Armee aus den besten Menschen der Welt dieser Zeit wird aus Medina kommen, um sich ihnen entgegenzustellen.“ In der weiteren Folge der Erzählung in Hadith 6924 erscheint dann auch Jesus, um den aufrechten Anhängern Gottes im letzten Kampf gegen das Böse beizustehen und sie im Gebet anzuführen.

Die Ideologen des IS lesen den alten Text selektiv und vermengen ihn mit der heutigen Realität. So, als würde jemand die Offenbarung des Johannes, die Apokalypse, aus der Bibel als Vorhersehung realer Geschehnisse interpretieren und danach seine heutigen Handlungen ausrichten. Das ist in dieser Form eher der Stoff von Horrorfilmen wie „Das Omen“.

Als der IS am 16. November 2014 die Enthauptung des gekidnappten Amerikaners Peter Kassig bekannt gab, bezogen sich die Extremisten auch auf den Ort Dabiq und darauf, wie sie Hadith 6924 interpretieren: „Wir sind hier und verbrennen den ersten Kreuzfahrer in Dabiq. Und wir warten auf den Rest eurer Armee.“ Der IS hatte die syrische Kleinstadt im August 2014 eingenommen. Gemäß den bizarren Vorstellungen des IS sollen hier in Dabiq nun „die Römer“, also die Truppen des Westens, einrücken. Dann startet die apokalyptische Endschlacht zwischen Gut und Böse, bei der der IS als Armee des Guten gegen die westliche Armee des Bösen antritt. Die Extremisten nehmen einen Teil aus einem alten religiösen Text und fügen ihn ohne jeglichen interpretativen und philosophischen Zugang als fantasyartiges Versatzstück in ein krudes, aber für viele auch sehr anziehendes, buntes und aufregendes Gedankengebäude ein.
DER KAMPF GEGEN DEN IS

Der vorliegende Text setzt sich aus Auszügen des neuen Buches von „Presse“-Außenpolitikredakteur Wieland Schneider zusammen.

„Krieg gegen das Kalifat – der Westen, die Kurden und die Bedrohung
Islamischer Staat“
Braumüller Verlag, Wien.
248 Seiten,
Einzelpreis: 21,90 Euro.

Die Buchpräsentation
findet am 22.10. um 19 Uhr in der
Buchhandlung Thalia, Landstraßer
Hauptstraße 2a/2b, 1030 Wien, statt.

Der Islamische Staat lockt seine ausländischen Kämpfer aber nicht nur mit wilden Heldenfantasien und wahnhaften apokalyptischen Vorstellungen. Der rasche Aufstieg der Extremistenorganisation hat handfeste politische Gründe. Mit der Idee, die einst von den Kolonialmächten gezogenen Grenzen zwischen Syrien und dem Irak niederzureißen, trifft der IS den Nerv vieler Araber. So wie bei anderen jihadistischen Gruppen wird der Aspekt Religion in ein ideologisches Konzept hineingestopft, in dem es um die gewaltsame Änderung bestehender politischer Verhältnisse geht.

Es war der Bürgerkrieg in Syrien, der den Aufstieg des IS begünstigte. Das blutige Chaos in Syrien wirkte wie ein Brandbeschleuniger, der das jihadistische Feuer aufflammen ließ. Und dieses Feuer brachte schließlich den Sprengsatz zur Detonation, der schon lang im Irak verborgen lag.

Aufstand in Iraks Sunnitengebieten. 2014 brach in vielen sunnitisch bewohnten Gebieten des Irak ein Aufstand los. Diese Revolte spülte den IS an die Macht. Der IS griff dabei auch auf das Know-how unzufriedener Ex-Funktionäre des 2003 gestürzten Diktators Saddam Hussein zurück. Der Wahnsinn der Jihadisten hat sich mit dem eiskalten Machtwissen des einstigen Saddam-Regimes verbündet – eine tödliche Mischung, die maßgeblich zum Erfolg des IS beigetragen hat. Die alten Saddam-Kader halfen, den neuen totalitären IS-Staat aufzubauen, der mit zahllosen Vorschriften in das Leben seiner Bürger eingreift – bis hin zu Bekleidungsvorschriften und dem Verbot von Musik oder Zigaretten. Das rigide System dient dem IS nicht nur dazu, die eigene Ideologie umzusetzen. Es geht auch darum, die Untertanen zu disziplinieren und so jeglichen Widerstand im Keim zu ersticken.

Im Herrschaftsbereich des IS wurde offiziell wieder die Sklaverei eingeführt. Jesidische Frauen wurden unter den IS-Kämpfern als „Kriegsbeute“ verteilt oder weiterverkauft. So wie eine 17-jährige Jesidin, die im August 2014 mit anderen Frauen vom Familiengehöft nahe des Ortes Til Aziz in die IS-Hochburg Mosul verschleppt worden war. „Wir waren in Mosul in einer großen Halle mit vielen anderen Frauen zusammengesperrt“, berichtet sie. „Wir haben kaum Essen bekommen, immer wieder wurden Frauen geschlagen.“ Schließlich konnte sie fliehen. Doch viele befinden sich nach wie vor in der Hand des IS. „Man muss sich um die Menschen kümmern, die von den Terroristen verschleppt worden sind“, verlangt auch der alte Jeside Jusif Ralaf Jusif. „Europa muss uns helfen.“

ISLAMISCHER STAAT (IS)

Die Ursprünge liegen in der Terrorgruppe al-Qaida im Irak von Abu Musab al-Zarqawi, der 2006 getötet wurde.

Abu Bakr al-Baghdadi wurde 2010 Chef der Nachfolgeorganisation Islamischer Staat im Irak.

2013 fusionierte er seine Gruppe mit jihadistischen Einheiten in Syrien zum Islamischen Staat im Irak und Sham (ISIS).

Im Sommer 2014übernahm ISIS in Teilen der irakischen Sunnitengebieten die Macht. Die Organisation benannte sich in Islamischer Staat (IS) um und rief ein „Kalifat“ aus.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2015)