Der
Tagesspiegel, 19.10.2015
http://www.tagesspiegel.de/politik/angela-merkel-die-eu-und-die-kurden-die-tuerkische-regierung-ist-in-panik/12466544.html
Angela Merkel,
die EU und die Kurden
„Die türkische
Regierung ist in Panik“
Von Andrea Dernbach
Die Kurdistan-Spezialistin
Gülistan Gürbey erklärt, warum nach Jahren des Dialogs die Gewalt zurück
ist - und was dies mit der Parlamentswahl am 1. November zu tun hat.
Die
EU einigt sich mit Premier Erdogan; es steht zu vermuten, dass das europäische
Interesse an seiner repressiven Politik, etwa gegen die Kurden, nachlassen
wird. Wie ist die Lage derzeit, Frau Gürbey?
Seit diesem Sommer ist die Gewalt, der Krieg zurück. Wenn die Entwicklung
so weitergeht, fürchte ich nicht nur die Rückkehr der Politik der verbrannten
Erde der 90er Jahre, als zigtausende Leben und tausende Dörfer ausgelöscht
wurden, sondern weit darüber hinaus.
Warum?
Weil wir jetzt durch Syrien eine Regionalisierung des türkischen Kurdenkonflikts
haben und eine Erstarkung der Kurden, innen und außen. Die PKK und ihr
syrischer Ableger PYD haben im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ Bedeutung
gewonnen, auch in den Augen des Westens. Innenpolitisch hat die Kurdenpartei
HDP bei der Parlamentswahl 13 Prozent eingefahren und die absolute Mehrheit
der regierenden AKP verhindert.
...die doch jahrelang
den Ausgleich mit den Kurden versuchte …
Das Ziel dieser Politik war allerdings die bedingungslose Entwaffnung
der PKK. Zuvor hatte man dies erfolglos militärisch versucht. Das Argument
Erdogans war: Wir haben die Türkei reformiert, den Minderheiten mehr Rechte
eingeräumt, die könnt jetzt auch die Kurden nutzen, mehr braucht es nicht.
Was ist daran falsch? Will nicht auch die Mehrheit der Kurden einfach
Frieden, kulturelle Rechte, etwas Wohlstand?
Das stimmt, die Mehrheit der Kurden lehnt Gewalt ab. Für sehr viele ist
aber die PKK keine Terrororganistion, sondern sie sehen sie als Reaktion
auf die lange massive Unterdrückung durch den türkischen Staat.
Dann müssten sie
praktisch d’accord mit Erdogan sein: Frieden und Reformen…
Ganz so einfach ist es nicht mehr. Der Bedeutungszuwachs der Kurden, innertürkisch
durch den Erfolg der HDP, außerhalb durch inzwischen zwei kurdische Autonomien
– erst im Irak, jetzt auch in Syrien – bringt die kurdische Frage, die
seit dem Ersten Weltkrieg ungelöst ist, erneut aufs Tapet. Man wird also
über Formen der Autonomie verhandeln müssen, ohne die türkischen Grenzen
anzutasten. Das aber will Ankara auf keinen Fall. Und seit dem Wahlerfolg
der HDP im Juni und dem militärischen Erfolg der PKK-Schwester PYD in
Syrien, die inzwischen Land mit Aussicht auf einen Meereszugang kontrolliert,
ist die Regierung in Panik.
Und lässt im November
neu wählen. Was, wenn sich das Juni-Ergebnis wiederholt?
Erdogan hat keine
weiteren Karten im Ärmel, die militärische hat er gezogen. Gut möglich
also, dass er eine Koalition eingeht. Rein rechtlich kann er auch ein
drittes Mal wählen lassen, mit der Folge neuer Polarisierung. Wie auch
immer, die Türkei wird instabiler. Ich sehe keine guten Zeiten anbrechen.
Gülistan Gürbey ist
Politikwissenschaftlerin und Privatdozentin an der Freien Universität
Berlin. Ihr Spezialgebiet ist Konfliktforschung, sie arbeitet seit langem
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Gülistan Gürbey ist Politikwissenschaftlerin und Privatdozentin an der
Freien Universität Berlin. Ihr Spezialgebiet ist Konfliktforschung, sie
arbeitet seit langem zum... - Foto: privat |