junge Welt, 19.10.2015

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Wahlgeschenk für Erdogans AKP

Kanzlerin Merkel stellt Türkei neues EU-Verhandlungskapitel in Aussicht

Dafür, dass die Türkei künftig Flüchtlinge an der Weiterreise in die Europäische Union hindert und bereits Geflohene wiederaufnimmt, soll das NATO-Land jetzt mit neuen EU-Beitrittsgesprächen belohnt werden. Bei einem Besuch in Istanbul stellte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Sonntag noch für dieses Jahr die Eröffnung eines neuen Verhandlungskapitels in Aussicht. Bei diesem geht es um den Bereich der Wirtschaftspolitik. Merkel forderte nach einem Gespräch mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu, im Gegenzug solle Ankara die Umsetzung eines Vertrages beschleunigen, der die »Rückführung« von Flüchtlingen in die Türkei vorsieht.

Brüssel und Berlin setzen bei der Bewältigung der Migrationsströme ganz wesentlich auf die Türkei. Dort sind rund zwei Millionen Syrer aus dem benachbarten Bürgerkriegsland untergebracht. Die Türkei ist zudem Transitraum für Flüchtlinge etwa aus Afghanistan. Bei ihrem Gipfeltreffen in Brüssel hatten die EU-Staats- und Regierungschefs in der vergangenen Woche einen »gemeinsamen Aktionsplan« gebilligt. Ankara soll eine Milliarde Euro bekommen. Die türkische Führung erklärte jedoch, es handele sich lediglich um einen »Entwurf«, und fordert drei Milliarden Euro »Flüchtlingshilfe«.

Merkel deutete am Sonntag auch raschere Gespräche über das von der Türkei nachdrücklich eingeforderte Thema der Reiseerleichterung an. Ankara strebt die Aufhebung des Visazwangs für Türken bei Reisen nach EU-Europa an. Kritik an ihrem Besuch in Istanbul zwei Wochen vor der türkischen Parlamentswahl wies sie zurück. »Ich gehe davon aus, dass freie und faire Wahlen stattfinden«, sagte sie. Die Kanzlerin unterstrich das deutsche Interesse an einer »stabilen Türkei«.

Die türkische Opposition kritisierte die Intervention aus Berlin für die regierende AKP. Es ist »schade, dass Merkel kein Treffen mit der CHP oder überhaupt mit der Opposition beantragt hat«, sagte Erdal Aksünger, Chefberater des Oppositionsführers Kemal Kilicdaroglu, gegenüber dpa am Sonntag. Es sei Merkels Entscheidung, wen sie treffe. Sie erwecke jedoch den Eindruck einer Beteiligung am Wahlkampf. Die prokurdische Oppositionspartei HDP warf Merkel einen »schmutzigen Handel« mit der Türkei vor. »Es wird gesagt: Schick uns keine Flüchtlinge mehr, mache dem ein Ende und nimm dafür drei Milliarden Euro«, sagte der HDP-Vize-Chef Nazmi Gür. Die schlimme Lage der Flüchtlinge sei jedoch kein Thema. »Diese Feilscherei ist beschämend«, sagte er. Merkel müsse zudem die Syrien-Politik von Staatspräsident Erdogan ansprechen. Deren Scheitern habe das »Menschheitsdrama« erst herbeigeführt. (AFP/dpa/jW)