welt.de, 19.10.2015

http://www.welt.de/politik/ausland/article147779125/Eine-Stadt-verliert-ihre-Kinder-an-den-IS.html

Eine Stadt verliert ihre Kinder an den IS

Die Terroristen von Ankara kamen aus der Stadt Adiyaman. Einwohner werfen der türkischen Regierung vor, den Islamischen Staat hier geduldet zu haben. Die Geschichte eines vermeidbaren Massenmordes. Von Deniz Yücel , Adiyaman

Die Terrormiliz "Islamischer Staat", von der Türkei geduldet? Davon will die türkische Regierung nichts wissen. Nicht nur die 102 Toten des Anschlags von Ankara, das ganze Land ist doch Opfer der Terroristen – das ist die Linie von Premier Ahmet Davutoglu und Präsident Recep Tayyip Erdogan. Doch ein Besuch in der südostanatolischen Stadt Adiyaman am Rande der kurdischen Gebiete zeigt schnell, woher der Wind wirklich weht.

200.000 Menschen leben hier, Türken und Kurden, Aleviten und Sunniten. Industrie gibt es kaum, Landwirtschaft spielt in der fruchtbaren Gegend eine große Rolle, doch gerade unter jungen Leuten ist die Arbeitslosigkeit hoch. Der Filmemacher und HDP-Politiker Sirri Süreyya Önder ist ein Sohn der Stadt, ebenso der armenische Résistance-Kämpfer Missak Manouchian, der in Frankreich als Nationalheld gilt. Und aus Adiyaman stammen auch die beiden Männer, die sich am 10. Oktober in Ankara in die Luft jagten. Einer von ihnen ist Ömer Deniz Dündar. Diesen Namen hat Davutoglu (Link: http://www.welt.de/themen/ahmet-davutoglu/) lange zuvor schon gehört.

Es ist Dezember 2014, als der türkische Premier den Kongress des AKP-Ortsverbandes in Adiyaman besucht. Dabei trifft er sich mit einigen Familien, die ein gemeinsames Problem haben: Ihre Söhne haben sich dem IS angeschlossen und sind abgetaucht. Davutoglu verspricht, dass er den Geheimdienst anweisen werde, diese Jungs dingfest zu machen. Als die Familie Tasar ihm erzählt, dass ihr Sohn zusammen mit seiner Ehefrau abgetaucht sei, antwortet er: "Gut, dass sie zusammen gegangen sind; dann können sie sich gegenseitig unterstützen." Eine flapsige Bemerkung, die bei den Familien einen Eindruck verstärkt, den sie ohnehin längst haben: Der türkische Staat findet nichts dabei, dass sich ihre Kinder dem IS angeschlossen haben.

Aus dem Büro des Ministerpräsidenten hörten die Familien danach nichts mehr. Dafür erhielten einige ein paar Monate später Nachrichten von ihren Kindern. Die Familie Gönder: Ihr Sohn hat auf einer Kundgebung der prokurdischen HDP Anfang Juni in Diyarbakir zumindest eine der beiden Bomben (Link: http://www.welt.de/142043664) gelegt. Fünf Tote, 16 Schwerverletzte. Die Familie Alagöz: Ihr Sohn hat Mitte Juli einen Selbstmordanschlag (Link: http://www.welt.de/144244298) auf linke Aktivisten in Suruç verübt. Außer ihm 32 Tote, 32 Schwerverletzte.

Kurz darauf erstellten die Behörden eine Liste von 21 Personen, die als Mitglieder der örtlichen IS-Zelle gelten: 15 Männer und drei Frauen aus Adiyaman, dazu drei angeheiratete Frauen von außerhalb. Potenzielle Selbstmordattentäter. Die Medien nennen sie "Dokumaci-Gruppe", nach ihrem Anführer Mustafa Dokumaci. Die Gruppe ist bunt zusammengewürfelt, ein Querschnitt der Stadt. Alle sind um die 20. Manche arm, andere wohlhabend; einige ohne Job und schlecht ausgebildet, andere waren erfolgreiche Schüler, bis sie in Kontakt mit dem IS gerieten.

Viele schließen sich dem IS an

Nachrichten über ihrer Kinder erhielten die Familien erst durch die Bomben in Ankara. Bei den Selbstmordattentätern handelt es sich um Yunus Emre Alagöz, den Bruder des Attentäters von Suruç. Und eben um Ömer Deniz Dündar, dessen Familie beim Ministerpräsidenten vorstellig geworden war.

Der Rechtsanwalt Osman Süzen kennt die Dündar-Familie gut. In seiner Kanzlei in Adiyaman erzählt der Ortsvorsitzende des Menschenrechtsvereins, wie Mehmet Dündar zu ihm kam, der Vater der Zwillingsbrüder Ömer Deniz und Mahmut Gazi. Die Dündars sind eine linke Familie. Aber sie sind arm, die Söhne nehmen den Vater nicht ernst. Über einen gemeinsamen Freund wurden die beiden Brüder immer religiöser, ihre Ansichten immer radikaler. Im September 2013 tauchten sie ab.

Ihr Vater wandte sich mithilfe des Menschenrechtsvereins an die Polizei. Er machte sich schließlich selber auf den Weg nach Syrien, wo er die Zwillinge in einem IS-Camp bei Aleppo fand. "Gebt mir wenigstens einen meiner Söhne", bettelte er den Kommandanten an. Der höhnte: "Versuch's nur. Wenn sie mit dir kommen, kannst du beide mitnehmen." Sie kamen nicht. Aber im Februar 2014 waren sie plötzlich zurück in Adiyaman. An ihrer Seite Ehefrauen, die sich dem IS angeschlossen hatten: die türkische Staatsbürgerin Merve D. und die deutsche Staatsangehörige Valentina S. Beide stammen aus Mönchengladbach.

Seit ihrer Rückkehr hatte der IS sogar eine Anlaufstelle in Adiyaman: die "Teestube Islam". Wieder wandte sich Vater Dündar an die Behörden und zeigte die eigenen Söhne an. Die Polizei protokollierte ihre Aussagen und ließ sie wieder laufen. Nach den Unruhen in einigen türkischen Städten während der Belagerung von Kobani im Oktober 2014 tauchte die gesamte Dokumaci-Gruppe ab. Mindestens 23 Personen verschwanden. Mehmet Dündar ging erneut zur Polizei – nichts geschah. Der durch Vermittlung eines örtlichen AKP-Abgeordneten zustande gekommene Besuch mit Davutoglu stand am Ende eines langen, verzweifelten Kampfes.

"Warum kommt ihr erst, wo es zu spät ist?"

Und die Dündar-Familie war nicht die einzige, die sich an die Behörden wandte. Da ist zum Beispiel Mohammed Zana Alkan. Seine Familie betreibt ein Geschäft für Kinderbekleidung; seine Mutter steht mit drei weiteren Frauen hinter der Ladentheke. Alle tragen Kopftücher, im Hintergrund läuft religiöse Musik. Fromme Menschen, AKP-Wähler. Mit Journalisten reden will die Mutter nicht. "Warum kommt ihr erst, wo es zu spät ist?", sagt sie verbittert.

Oder Mehmet Tasar. Dessen Onkel Kadir war für die nationalistische MHP Bürgermeister einer Kleinstadt in der Provinz. Inzwischen hat er in Adiyaman ein Geschäft für Baubedarf eröffnet, in Anzug und Krawatte wirkt er, als würde er immer noch amtliche Dinge regeln anstatt Farben und Tapeten zu verkaufen. Er erzählt von seinem Neffen Mehmet und dessen Jugendliebe Demet. Deren Familie stammt ebenfalls aus Adiyaman, lebt aber im europäischen Landesteil, ihr Vater ist Polizist.

"Als sie sich kennenlernten, war Mehmet ein normaler Junge und Demet trug Shirts mit Spaghettiträgern. Dann begann er, regelmäßig zu beten. Am Anfang fand ich das gut. Aber er wurde immer komischer. Irgendwann ging er nicht mehr in die Moschee, weil er für die Imame für gottlos hielt. Auf ihrer Hochzeit saßen Männer und Frauen getrennt; es gab keine Musik, keinen Tanz. Mehmet wollte das so. In unserer Familie hatte es so was nicht gegeben. Demets Großvater sagte mir da: 'Diese Kinder werden sich dem IS anschließen und keiner tut etwas.'"

Oder Orhan Gönder, der Attentäter von Diyarbakir. Seine Großfamilie betreibt mehrere Bäckereien in Adiyaman, hier kennt sie jeder. Kurden, HDP-Wähler – und Aleviten. Ihr Sohn Orhan ist ein Konvertit. "IS, das ist soweit weg von uns", sagt sein 34-jähriger Cousin Ercan Gönder, ein aktives Mitglied der HDP (Link: http://www.welt.de/147444846) und eine Art Sprecher der Familie. Auch die Gönder-Familie hat lange um den Sohn gekämpft; auch Orhan verschwand nach Syrien, tauchte wieder auf, um dann erneut abzutauchen. Zwei Tage vor dem Anschlag in Diyarbakir wurde er dort in einem Hotel festgenommen. Der Grund: Probleme mit dem Militärdienst. Dass er zugleich als IS-Mitglied gesucht wurde, schien die Polizei nicht zu interessieren.

"Mir wäre lieber, mein Sohn wäre tot"

Ein paar Tage nach dem Anschlag wurde er in der Stadt Gaziantep verhaftet – eine Panne, wie sein Cousin glaubt. "Die Polizei von Gaziantep hat ihre Arbeit gemacht. Die in Diyarbakir hätten ihn laufen lassen." Inzwischen sitzt Orhan Gönder in Untersuchungshaft. Dem Richter wie der Familie hat er erzählt, dass er nur zufällig in Diyarbakir gewesen sei und nichts damit zu habe. Unsinn, sagt sein Cousin Ercan. "Orhan ist ein ängstlicher Junge, ohne fremde Hilfe wüsste der nicht einmal, wo Diyarbakir liegt." An dessen Unschuld glaubt er nicht. Aber auch nicht daran, dass sein Cousin alleine beide Bomben gelegt hat. Orhan Gönders Mutter Hatice sagt: "Mir wäre lieber, die Menschen, die er getötet hat, wären noch am Leben und mein Sohn wäre tot."

Rätselhaft bleibt allein der Anführer Mustafa Dokumaci. Er ist Mitte 30 und soll ebenfalls aus Adiyaman stammen, aber niemand hier kennt ihn oder auch nur seine Verwandten. Er soll früher schon bereits für al-Qaida Kämpfer rekrutiert haben. Ihm werden Verbindungen zum "Tiefen Staat" (Link: http://www.welt.de/147593387) nachgesagt.

Doch mag der Anführer im Dunkeln blieben, sind die Umtriebe der Gruppe in groben Zügen längt bekannt. So hat der Journalist Idris Emen von der linksliberalen Zeitung "Radikal" seit September 2013 über diese IS-Zelle berichtet. Für seine Recherchen erhielt er einen Journalistenpreis. Ansonsten aber blieben sie ohne Folge. "Der Staat hat nicht nur weggeschaut", sagt der Menschenrechtsaktivist Süzen. "Es wirkte so, als würde der Staat diese Umtriebe geradezu anstiften. Wenn der einfache Bürger Mehmet Dündar seine Söhne in Syrien finden kann, dann könnte der Geheimdienst sie erst recht finden. Wenn er nur wollte." Für Süzen steht außer Frage: "Diese Anschläge hätten verhindert werden können. Es geschah vor aller Augen."

Heute ist die "Teestube Islam" ist geschlossen, auch eine Firma, die für Reklameschilder, die danach die Räume anmietete, konnte sich nicht halten. Aber wer sich in der Stadt ein bisschen umhört, hört immer noch Namen. E.K. zum Beispiel, der im Auftrag des IS die jungen Leute nach Syrien geschleust haben soll und sich offenbar immer noch in der Stadt aufhält. Eine Gesprächsanfrage der "Welt" lässt er ablehnen. Dass er für die Behörden nicht greifbar sein soll, ist kaum vorstellbar.

Familien kämpfen vergeblich um ihre Kinder

Dabei gilt Adiyaman nicht als die größte aller IS-Hochburgen in der Türkei. Aus Gaziantep, Konya und Istanbul sollen noch mehr der Schätzungen 2500 bis 6000 türkischen IS-Kämpfer stammen. Und auch nicht alle IS-Kämpfer aus Adiyaman gehören zur Dokumaci-Gruppe.

An der sind jedoch zwei Dinge besonders: Der öffentliche, aber vergebliche Kampf der Familien um ihre Kinder. Und der Umstand, dass die Mitglieder dieser Gruppe offenbar zu Bombenspezialisten und Selbstmordattentätern trainiert wurden. Vermutlich sind sie nach der Einnahme der Stadt Tel Abiad im Juni in die Türkei zurückgekehrt – zumindest einige von ihnen könnte mit den Flüchtlingen (Link: http://www.welt.de/142685305) gekommen sein, die damals in den türkischen Grenzort Akçakale flohen. Zwei Mitglieder der Gruppe wurden in Tel Abiad von der syrisch-kurdischen YPG festgesetzt und sollen sich dort in Haft befinden.

Noch nach dem Anschlag von Ankara sagte Ministerpräsident Davutoglu, dass die Behörden keine Handhabe hätten, gegen diese Leute vorzugehen, solange sie nicht zur Tat schritten – erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die Behörden bei mutmaßlichen PKK-Mitgliedern keine Scheu vor präventiven Festnahmen haben und in der Türkei unzählige Menschen schon bei weit schwächeren Indizien wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation verhaftet und verurteilt werden.

So aber verwundert es nicht, dass Gouverneur Mahmut Demirtas, seit 2012 oberster Beamter der Provinz Adiyaman, eine Interviewanfrage der "Welt " ablehnte. Dabei verwies er auf ein Gerichtsurteil von voriger Woche: Die Staatsanwaltschaft hatte ein Verbot von "Nachrichten, Interviews, Kritiken" über die Attentäter von Ankara und ihre Verbindungen erwirkt. Um Ermittlungsgeheimnisse geht es dabei offensichtlich nicht. Sondern darum, das skandalöse Verhalten der Behörden zu kaschieren.