telepolis, 20.10.2015 http://www.heise.de/tp/artikel/46/46322/1.html Türkei – ein sicheres Herkunftsland? Elke Dangeleit Um den Flüchtlingsstrom nach Deutschland und der EU zu begrenzen, werden Menschenrechtskonventionen missachtet Nach Merkels Treffen mit Erdogan und Ministerpräsident Davutoglu ist es schon beschämend, wie die deutsche Presse ins Horn von Merkel und Erdogan bläst: Verständnis für Merkels Probleme, in Deutschland Flüchtlingen eine halbwegs menschenwürdige Aufnahme zu ermöglichen, bei einer einerseits lahmen, überforderten, weil an die Wand gesparten Verwaltungsstruktur und den Flüchtlingsgegnern im Land andererseits. Verständnis dafür, dass die Türkei - Menschenrechtsverletzungen hin oder her - das Land ist, dass vermeintlich die Massen von der Migration nach Europa abhalten könnte. Blind dafür, dass man die Symptome in Syrien bekämpfen muss, will man weitere massenhafte Migrationsströme verhindern. Dass Merkel, stellvertretend für die EU, Wahlkampfhilfe für Erdogan leistet, sieht selbst Udo Steinbach so, der ehemalige Leiter der Stiftung Wissenschaft und Politik, die die Bundesregierung berät. Bittsteller ist die EU in der Regulierung der Migrationsströme und sie ignoriert dafür bewusst die autokratische und totalitäre Haltung Erdogans im Umgang mit Andersdenkenden und Minderheiten, die den z.T. berechtigten Vorwürfen gegen Assad langsam den Rang ablaufen. Man stelle sich Folgendes mal in dem sicheren Herkunftsland Deutschland vor: Die Leiche einer PKK-Kämpferin in Varto wird von türkischen Militärs geschändet und nackt auf die Straße geworfen. In der kurdischen Provinzhauptstadt Sirnak wurde ein junger Schauspieler mit über 20 Schüssen von der Polizei hingerichtet und dann am Hals angebunden hinter einem Polizeifahrzeug durch die Straßen geschleift – gefolgt von Rufen aus dem Wagen wie "Ihr Hunde, wir kriegen euch alle", auch gefilmt: aus dem besagten Fahrzeug. Friedhöfe der kurdischen Milizen, wie auch ezidische und christliche Friedhöfe wurden durch die türkische Polizei und Militärs zerstört und geschändet. Die Liste der aktuellen und vergangenen Menschenrechtsverletzungen in der Türkei ist lang. Auch in den 80er und 90er Jahren wurden von staatlicher Seite massive Menschenrechtsverletzungen begangen, auch Europäer wurden nicht verschont. In Diyarbakir wurde in den letzten Tagen die historische Altstadt abgeriegelt und auf alles geschossen, was sich bewegt. Wie auch in den vergangenen Wochen in Cizre und vielen Städten in Nordkurdistan. Dabei kam auch – wie in den anderen abgesperrten Städten und Regionen - ein zwölfjähriges Mädchen letzten Mittwochmorgen in Diyarbakir durch Polizeischüsse ums Leben. "Sie haben ihm einfach in den Kopf geschossen." Das geschah nach dem Attentat in Ankara und drei Tage vor Merkels Besuch. Die Situation in den staatlichen Flüchtlingscamps für Nicht-Sunniten sieht nicht gut aus. Immer wieder gibt es Berichte über Menschenrechtsverletzungen gegenüber Eziden und Christen in den staatlichen Camps von der AFAD, die sich dort gemeldet hatten, in der Hoffnung auf ein Ticket nach Europa. Die Gelder fließen ausschließlich in die staatlichen Camps. Nur wer dort registriert ist, hat Anspruch auf einen Besuch im Krankenhaus. So kann man sich auch vorstellen, wohin die geforderten 3 Mrd. Euro für Flüchtlingscamps aus der EU hinfließen: in die Hände der lokalen und nationalen türkischen Mafia. Kilis z.B. ist eine Kleinstadt, der seit den 80er/90er Jahren nachgesagt wird, Hauptstadt der Mafia in der Türkei zu sein. Dort ist eines der größten staatlichen Flüchtlingslager, von dem es heißt, fest in der Hand der Mafia zu sein – finanziert vom türkischen Staat. Die Verwicklung von Korruption, Mafia und Geheimdienstaktivitäten reichen weit in den Erdogan-Clan hinein – ein Grund mehr für Europa, hier ein wachsames Auge zu haben. Neben den Milliardenforderungen für eine dichte Grenze hat Erdogan aber noch eine weitere, brisante Forderung gestellt: Die Patriot-Systeme sollen in der Türkei verbleiben. Verteidigungsministerin von der Leyen hatte allerdings im Sommer angekündigt, dass die Bundeswehr ihre Patriot-Systeme abziehen will.
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