junge Welt, 22.10.2015

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»Wie der IS«

Im Osten der Türkei tobt der Staatsterror gegen die Hochburgen der prokurdischen HDP. Eindrücke aus einem Wahlkampf im Zeichen der Repression

Von Fuoco Savinelli/ Diyarbakir

Ganze Straßenzüge von Sur, dem Altstadtviertel der kurdischen Metropole Diyarbakir im Südosten der Türkei, zeugen von schweren Kämpfen. Das Portal der historischen Fatih-Pasha-Moschee ist ebenso wie viele Wohnhäuser von Einschüssen übersät, Reste von Barrikaden türmen sich an den Straßenrändern. Mehrfach war über dieses innerhalb der schwarzen Basaltmauern gelegene Armenviertel, das als Hochburg der kurdischen Befreiungsbewegung gilt, in den vergangenen Wochen eine Ausgangssperre verhängt worden. Sondereinheiten der Polizei lieferten sich in den engen Gassen Gefechte mit der Patriotisch-Revolutionären Jugendbewegung (YDG-H), der Jugendorganisation der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Die Polizei griff die Stadtguerilla mit schweren Waffen an, auch aus Helikoptern. Zwei Tage habe seine zehnköpfige Familie in Todesangst in einer fensterlosen Vorratskammer ausgeharrt, berichtet ein Vater von der Beschießung des Viertels durch die Polizei. Eine Rakete hat die Hausmauer durchschlagen, selbst im Schlafzimmer sind Einschüsse zu sehen. Die Männer der Sondereinheiten trugen Skimasken, einige hatten lange Bärte. »Wie der IS«, erzählt eine andere Anwohnerin von der Stürmung ihres Hauses. »Sie schrien Allahu Akbar.« An einigen Hauswänden haben die Polizeikommandos dschihadistische Parolen hinterlassen. Mehrere Zivilisten wurden durch Polizeischüsse getötet, darunter ein zwölfjähriges Mädchen, das Brot holen wollte.

»Die jungen Leute haben doch niemanden bedroht«, verteidigt eine Anwohnerin von Sur die YDG-H, deren Mitglieder sich offenbar ohne größere Verluste zurückziehen konnten. Doch unterderhand wird auch Kritik laut. »Erdogan setzt auf einen Chaosplan, um bei den Neuwahlen am 1. November wieder eine absolute Mehrheit für seine AKP zu bekommen. Warum spielt ihm die PKK in die Hände, indem sie den Krieg in die Städte trägt«, fasst der Dolmetscher Mehmet*, selbst Anhänger der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), die Klagen vieler Anwohner zusammen. »Die YDG-H sagt, dass sie zum Schutz der Bevölkerung da ist, doch sie konnten die Anwohner nicht schützen.« Auch die im August erfolgte Ausrufung der Autonomie durch eine Reihe von kurdischen Städten und Stadtvierteln wie Sur, hält Mehmet für eine unnötige Provokation, die dem Staat einen Vorwand zum Angriff lieferte.

Auch ohne Ausgangssperre leeren sich nach Einbruch der Dunkelheit die sonst so lebhaften Straßen in Sur. »Die Menschen haben Angst. Mehrfach wurde in den letzten Tagen aus schwarzen Geländewagen ohne Nummernschilder auf Passanten geschossen«, berichtet der Musiklehrer Ahmet* im örtlichen Kulturzentrum. »Niemand weiß, was das für Einheiten sind, sie gehören weder zur Polizei noch zum Militär.« Über Lautsprecher drohten sie: »Ihr werdet die Macht der Türken zu spüren bekommen.« Inzwischen seien viele Familien aus Sur weggezogen, berichtet Grundschullehrerin Ayse*. Ihre Schule war von der Polizei während der Ausgangssperre gesprengt worden. Der Unterricht wurde in ein anderes Viertel verlegt, in das sich viele Kinder nicht trauten.
Konferenz: Internationalismus im 21. Jahrhundert

Die von der Regierungspartei AKP als »Terrorismusbekämpfung« bezeichneten Strafexpeditionen gegen kurdische HDP-Hochburgen gehen weiter. Am Wochenende wurde eine Ausgangssperre über die Kleinstadt Lice verhängt, die Armee zerstörte hier einen Guerillafriedhof und die zugehörige Moschee. Seit Wochenbeginn werden zudem mehrere Viertel der nahe Diyarbakir gelegenen Stadt Silvan von der Polizei belagert.

Nach dem Anschlag auf eine Friedenskundgebung in Ankara mit über 100 Toten verzichte die HDP aus Sicherheitsgründen auf Kundgebungen, berichtet die im Juni als erste Jesidin ins türkische Parlament gewählte und jetzt erneut für die HDP in Diyarbakir kandidierende frühere PDS-Europaabgeordnete Feleknas Uca. Stattdessen setzte die Partei, deren erneuter Einzug in das Parlament abermals die Ambitionen von Präsident Recep Tayyip Erdogan auf Errichtung einer legalen Präsidialdiktatur verhindern könnte, auf intensiven Haus- und Straßenwahlkampf. »Viele Familien haben in den letzten Wochen Angehörige durch den Krieg verloren, da können wir keinen gewöhnlichen Wahlkampf mit Musik machen«, so Uca.

Doch einige kurdische Politiker wirken aufgrund eines Dilemmas ratlos: Sollte die HDP erneut die Zehnprozenthürde überschreiten – woran hier niemand zweifelt – dann droht womöglich noch eine Verschärfung von Krieg und Repression. Doch bei einer Wahlniederlage etwa in Folge massiver Wahlmanipulation wäre die Region ebenfalls der Willkür des AKP-Staates ausgeliefert. »Unsere Sicherheitsgarantie ist die Guerilla in den Bergen«, heißt es daher hinter vorgehaltener Hand, während über der Stadt Kampfflugzeuge kreisen.

*Namen von der Redaktion geändert