Neue Zürcher Zeitung, 22.10.2015

http://www.neues-deutschland.de/artikel/988757.polizei-nimmt-kurden-in-dresden-fest.html

Kurden im Kampf gegen den IS

Der unnachgiebige Präsident

Ohne die Kurden lässt sich der IS im Nordirak nicht besiegen. Doch die Nordfront zerfällt. Ein innerkurdischer Machtkampf um Masud Barzani hat die Region in eine tiefe Krise gestürzt.

von Inga Rogg, Istanbul

Im Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) ist die kurdische Regionalregierung im Nordirak ein wichtiger Verbündeter der USA. So sähe es für Washington schlecht aus, wenn auch die Kurden den Avancen aus Moskau nachgäben und mit Russland gegen den IS zusammenspannen würden. Doch danach sieht es zurzeit nicht aus. In Gesprächen mit Regionalpräsident Masud Barzani und weiteren Regierungsvertretern hat der neue amerikanische Generalstabschef, Joseph F. Dunford Jr., am Dienstag betont, wie wichtig die Kurden im Kampf gegen die Extremisten sind. Dass er so kurz nach seiner Amtsübernahme nach Erbil gekommen sei, zeige dies, sagte Dunford. Zugleich lobte er den «Mut» von Barzani und kündigte an, Waffenlieferungen an dessen Peschmerga-Kämpfer zu beschleunigen.

Derzeit bilden Soldaten aus sieben Ländern, unter anderem Deutschland, rund 4200 Peschmerga aus. Das zahle sich aus, heisst es aus Kreisen der Koalition. Trotzdem bewegt sich an der Nordfront kaum etwas. Irakische Truppen und verbündete Milizen haben in den letzten Tagen südöstlich von Kirkuk die wichtige Erdölraffinerie Beiji und Teile der gleichnamigen Stadt eingenommen. Das ebnet den Weg für einen Angriff auf die Grossstadt Mosul und die Hochburgen der Extremisten um Kirkuk; für ihn brauchte man unbedingt die Kurden. Allerdings steht für diese derzeit nicht weniger als die vielgepriesene Stabilität von Kurdistan auf dem Spiel.

Proteste gegen Barzani

Die Mischung ist explosiv: ein Präsident, der sich an seine Macht klammert, eine Regierung, die Gehälter nicht mehr zahlen kann, und eine Bevölkerung, unter der die Unzufriedenheit wächst. Seit Wochen schon demonstrieren Tausende gegen die Regierung. In mehreren Städten zogen Demonstranten vor die Büros von Barzanis Demokratischer Partei Kurdistans (KDP) und forderten seinen Rücktritt. Dabei kam es in den beiden Städten Kaladize und Kalar zu gewaltsamen Zusammenstössen.

Demonstranten hätten die Büros mit Steinen beworfen, woraufhin Wachen Schüsse abfeuerten, berichteten Augenzeugen. Büros der KDP gingen in Flammen auf, nach Angaben von Human Rights Watch wurden fünf Demonstranten getötet. Darüber hinaus zwang die KDP den unabhängigen Nachrichtensender NRT und den Sender der oppositionellen Goran-Bewegung, ihre Büros in Erbil zu schliessen. Zwar konnten die Redaktoren ihre Arbeit später wieder aufnehmen. Am Mittwoch jedoch berichtete der Sender, einer seiner Leute sei vor laufenden Kameras von Sicherheitskräften festgenommen worden.

KDP-Vertreter machen für die Demonstrationen Goran verantwortlich, in deren Hochburgen in der Provinz Suleimaniya sich die Proteste konzentrieren. Die vor sechs Jahren von ehemaligen Führungsmitgliedern der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) gegründete Gruppierung ist heute die zweitstärkste politische Kraft in Kurdistan. Sie stellt den Parlamentspräsidenten; gemeinsam mit der KDP, der PUK und zwei islamistischen Parteien sass sie bisher auch in der Regierung. Das hinderte einige Peschmerga jedoch nicht daran, dem Parlamentschef Mohammed Yussuf an einem Checkpoint vergangene Woche die Weiterfahrt nach Erbil zu verbieten. Ministerpräsident Nechirvan Barzani, ein Neffe des Regionalpräsidenten, warf die fünf Goran-Minister zudem aus der Regierung, unter ihnen den Minister für Peschmerga-Angelegenheiten.

Zweigeteiltes Kurdistan

Goran-Vertreter sprechen von einem Putsch. Die KDP wirft Goran ihrerseits vor, sie wolle Kurdistan destabilisieren. Im Zentrum steht dabei der seit Monaten schwelende Streit um Barzanis Präsidentschaft, der seit 2005 im Amt ist. Seine offizielle Amtszeit lief bereits im Jahr 2013 ab. Damals gewährten ihm sämtliche Parteien eine einmalige Amtsverlängerung um zwei Jahre, die am 20. August endete. Barzani denkt jedoch nicht an Rücktritt. Er sieht sich durch ein Urteil eines Schiedsgerichts legitimiert, das entschied, Barzani bleibe bis zur Neuwahl eines Nachfolgers im Amt. Die Zuständigkeit des Gerichts ist freilich umstritten. Die Goran-Bewegung pocht ihrerseits auf die Umsetzung einer mit Ausnahme der KDP von allen Parteien beschlossenen Gesetzesvorlage, die das Parlament stärkt – es soll auch den Präsidenten wählen.

Der Konflikt hat in Kurdistan alte Gräben aufgerissen. Es herrsche eine Stimmung wie vor dem kurdischen Bürgerkrieg in den neunziger Jahren, sagen Kurden im Gespräch. Die Region ist erneut in zwei Landesteile gespalten: in die Provinzen Dohuk und Erbil, in denen die KDP die Macht hat, sowie die Provinz Suleimaniya und Teile der Region um Kirkuk, wo Goran und PUK den Ton angeben. Die Entscheidung über die Präsidentschaft sei eine innere Angelegenheit, heisst es in Washington. Das ist es zweifellos. Sollte der Konflikt aber weiter eskalieren, könnten die Kurden die amerikanischen Waffen freilich aufeinander statt gegen den IS richten.