Frankfurter Rundschau, 22.10.2015

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Gastbeitrag

Keinen Rabatt für die Türkei

Von Teyfik Karakücükoglu

Die Flüchtlingskrise zwingt Deutschland und EU, mit der Türkei zu verhandeln. Dafür müssen Regeln eingehalten werden.

Der Besuch von Kanzlerin Angela Merkel in der Türkei hat in Deutschland zu einer lebhaften Debatte über das Für und Wider dieser Reise geführt. Manche Beobachter wollen ausgemacht haben, dass die Kanzlerin sich bewusst für einen Besuch in Istanbul entschieden habe, um jeglichen Verdacht einer Einflussnahme auf den türkischen Wahlkampf, den ein Hauptstadtbesuch mit sich bringt, auszuräumen. Regierungssprecher Steffen Seibert kommentierte das nüchtern mit dem Verweis, dass der Gastgeber den Besuchsort bestimme.

Wie auch immer die Wahl auf Istanbul gefallen ist, jemand hätte der Kanzlerin im Vorfeld erklären sollen, dass Istanbul die Hauptstadt der osmanischen Sultane gewesen ist. Präsident Recep Tayyip Erdogan nutzte die Bühne des ehemaligen osmanischen Jagdschlosses Yildiz Saray, um sich als gütiger Sultan der Weltöffentlichkeit zu präsentieren, als einer, der der Europäischen Union (EU) in der Flüchtlingsfrage entgegen kommt, wo doch viele Mitgliedsstaaten die Grenzen verbarrikadieren.

Es steht außer Frage, dass die Kanzlerin in der jetzigen Situation mit der türkischen Regierung verhandeln muss; die meisten Flüchtlinge gelangen über die Türkei in die EU. Sie darf jedoch keine Zugeständnisse machen, die die Kriterien der Beitrittsverhandlungen verwässern würden; die Einstufung als sicheres Herkunftsland wäre genau das.

Präsident Erdogan weiß solche Zugeständnisse für den Wahlkampf in der Türkei zu instrumentalisieren. Er hat in den vergangenen Jahren stets versucht, sich mit einem Anti-EU-Kurs zu profilieren. Dazu gehörte eine Politik der Öffnung Richtung Naher Osten sowie eine Überbetonung der islamisch-osmanischen Identität der Türkei statt ihrer europäisch-laizistischen. Er hat öffentlich über den Beitritt zur Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit als Gegenstück zur EU schwadroniert. Ihm in dieser Situation eine Möglichkeit zu bieten, sich im Wahlkampf als starker Mann zu präsentieren, der der EU Zugeständnisse abtrotzt, ist falsch.

Erdogan weiß, dass die EU dringend auf die Unterstützung der Türkei bei der Bewältigung der Flüchtlingsfrage angewiesen ist, und ihm kommt das gelegen. Die von seinem ehemaligen außenpolitischen Berater und heutigem Premierminister Ahmet Davutoglu entwickelte außenpolitische „Zero-Problem Policy Doktrin“, die eine Vermittlerrolle für die Türkei in Konflikten in der Nachbarschaft vorsieht, ist krachend gescheitert. Die Beziehungen zu Israel sind seit dem Mavi Marmara Zwischenfall unterkühlt, die diplomatischen Beziehungen mit Ägypten liegen auf Eis, der Friedensprozess mit Armenien geht nicht voran, und zwischen den Freunden Erdogan und Wladimir Putin herrscht Uneinigkeit darüber, ob Baschar al-Assad auch künftig in Syrien regieren soll. Erdogan und die EU sind gezwungen, sich unter diesen Umständen wieder anzunähern.

Die Situation bietet eine Chance für die Belebung der europäisch-türkischen Beziehungen, aber dafür gilt es klare Regeln einzuhalten. Die EU muss Erdogan und der Regierung zuallererst klarmachen, dass es keinen Rabatt bei den Verhandlungen geben kann und sie die Entwicklung der Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte sowie der Presse- und Meinungsfreiheit genau verfolgt. Das erfordert Gespräche der Kanzlerin mit der Opposition und auch mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich tagtäglich unter schwierigsten Bedingungen für die auch während der Gezi-Proteste geforderten Rechte einsetzen. Die Einstufung der Türkei als sicheres Herkunftsland kann nur am Ende eines Beitrittsprozesses erfolgen, hierfür ist die Übernahme und Einhaltung des gemeinschaftlichen europäischen Regelwerks insbesondere in den Beitrittskapiteln 23 und 24 zu Justiz, Grundrechten und Freiheit eine Voraussetzung.

Was spricht aus Sicht der Kritiker gegen die Öffnung dieser Kapitel? Gerade die Kapitel 23 und 24 würden die Türkei zwingen, sich mit ihren Problemen bei Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechten auseinanderzusetzen. Die EU muss sich stärker engagieren, um den Zypernkonflikt zu lösen, da er eine Öffnung verhindert. Beitrittsverhandlungen sind die einzige Möglichkeit der EU, Einfluss auf die Türkei zu nehmen; sie dürfen jedoch nicht durch einen faulen Kompromiss in der Flüchtlingspolitik ihrer Wirkung beraubt werden. Die Verschiebung der Veröffentlichung der jährlichen Brüsseler Fortschrittsberichte hinter die andauernden Verhandlungen lässt nichts Gutes erwarten. Die Fortschrittsberichte dürfen nicht frisiert werden, um eine Einstufung als sicheres Herkunftsland zu rechtfertigen.

Mit dem Rücknahmeabkommen mit der Türkei möchten sich die in der Flüchtlingsfrage zerstrittenen Mitgliedsstaaten ihres größten Problems, nämlich einer fairen Verteilung der Flüchtlinge in Europa entledigen. Im Grunde genommen bedeutet dieses Abkommen die Ausweitung des gescheiterten Dublinsystems auf die Türkei, einem Land, das nicht Mitglied im Schengen-Raum ist, aber immer weiter überfordert und alleingelassen wird, wie die Länder an der EU-Außengrenze.

Angesichts der sich durch russische Bombardements in Syrien weiter verschärfenden Flüchtlingssituation sind die von der EU für die Türkei veranschlagten drei Milliarden Euro für die Bewältigung dieser Herausforderungen nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Eine ehrliche Kooperation mit Ankara in der Flüchtlingsfrage muss eine faire Verteilung der Flüchtlinge in Europa beinhalten, keine Verschiebung der Probleme in die Türkei.

Teyfik Karakücükoglu ist wissenschaftlicher Mitarbeiter von Manuel Sarrazin, europapolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion.

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