Die Presse, 24.10.2015

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Wie der IS in Raqqa Geschäfte macht

Autos, Energydrinks und sogar Alkohol: Wenige Händler importieren Waren in die Islamisten-Hochburg Raqqa. Die Terrormiliz Islamischer Staat braucht sie.

unserem Mitarbeiter Alfred Hackensberger (Die Presse)

Fünf oder sechs Köpfe sind an der Zugangsstraße aufgespießt. Fliegen surren um die blutverschmierten Schädel. Willkommen in Raqqa! Standesgemäß brutal empfängt der sogenannte Islamische Staat (IS) seine Besucher in der Hauptbasis des „Kalifats“ im Osten Syriens. Die Botschaft ist unmissverständlich: Hier in Raqqa herrscht der IS und jeder, der zu widersprechen wagt, ist des Todes. Vor den Kontrollstellen zur Stadt verstummen die Passagiere in den Kleinbussen, Sammeltaxis und Privatwagen. Alle halten ihre Ausweise bereit. Ehepaare brauchen zusätzlich eine Heiratsurkunde. Am Checkpoint stehen langhaarige, bärtige IS-Kämpfer mit Kalaschnikows und Pistolen im Halfter. Einige der Männer sind mit Skimasken vermummt. Sie suchen nach Spionen, Deserteuren, Zigaretten, Alkohol und allen anderen Dingen, die ihrer rigiden Auslegung der Scharia nach verboten sind. Die Kontrolleure sind gereizt und penibel. Sie verhaften beim geringsten Verdacht, und viele ihrer Opfer verschwinden auf Nimmerwiedersehen.

„So schlimm war es noch nie“, behauptet Mohammed, der aus einer alteingesessenen Familie aus der Provinzhauptstadt am Euphrat stammt. „Sie sind völlig paranoid und wittern hinter allem eine Verschwörung.“ Für ihn ist das ein Zeichen von Schwäche. „Mit ihrem Enthusiasmus ist es längst vorbei“, meint der 38-Jährige. „Sie haben nicht mehr Geld im Überfluss, vor allem aber sind sie militärisch schwer unter Druck.“ Nur 40 Kilometer nördlich von Raqqa steht die Kurdenmiliz YPG. Sie hat dem IS in den vergangenen sechs Monaten über 10.000 Quadratkilometer an Territorium abgenommen und plant nun eine Offensive auf die Stadt. Dafür haben sich die Kurden mit arabischen Einheiten der moderaten Freien Syrischen Armee (FSA), christlichen und turkmenischen Milizen verbündet. Sie werden von den USA unterstützt. Letzte Woche ließ das Pentagon 50 Tonnen Munition und Waffen für das Bündnis abwerfen. Bei Beginn der Offensive werden amerikanische Kampfjets auch Luftangriffe fliegen. Der Fall von Raqqa scheint beschlossene Sache und damit auch der Anfang vom Ende der IS-Terrororganisation.

Mohammed hat an den Checkpoints in Raqqa keine Probleme. Obwohl er zwei Stangen Zigaretten und sogar einige Flaschen Raki dabeihat. Sollte er einmal angehalten werden, zeigt er seinen Businessausweis, der genügt, um unbehelligt weiterzufahren. Mohammed ist Autohändler und versorgt den IS mit Fahrzeugen. „Sie bekommen, was sie wollen. Geländewagen, Pick-ups, Kleinlaster der Marken Toyota, Mazda, Nissan, neu oder gebraucht, einfach alles.“ Der IS weiß Mohammed zu schätzen. So ein Mann ist in Kriegszeiten unverzichtbar, und den lässt man besser in Ruhe.

Anfang Oktober hatte die US-Regierung eine Untersuchung eingeleitet, um herauszufinden, wie die Terrorgruppe so viele, zum Teil auch neue Geländewagen besitzen könne. Washington erkundigte sich beim Automobilhersteller Toyota, aber auch der konnte oder wollte sich keinen Reim darauf machen. Dabei ist es simpel: Es sind Autohändler wie Mohammed, die den IS und gleichzeitig auch alle anderen Kriegsparteien mit Fahrzeugen versorgen. Es ist eine einfache Rechnung: Mohammed hat in Syrien 70 Kollegen, die wie er mit Autos handeln. Sollte jeder von ihnen im Schnitt nur 40 Fahrzeuge im Monat verkaufen, wären das pro Jahr 33.600 Wagen mit einem Gesamtwert von etwa 700 Millionen Euro. Ein Geschäft, das sich sehen lassen kann.


Privatschulen für die Kinder

Alle Händler sind registriert und besitzen Ausweise, mit denen sie jederzeit über die türkische Grenze nach Syrien einreisen können. Für alle anderen bleibt die Grenze geschlossen, denn offiziell ist sie zu. Neben den Autohändlern gibt es noch 280 weitere angemeldete Kaufleute, die mit dem IS Geschäfte machen. Sie liefern von Zement über Ersatzteile bis Energydrinks alles, was gefragt ist.

Mohammed ist gerade aus Raqqa in die Türkei gekommen und „sehr zufrieden“, wie er betont. Wie viele Autos er in den vergangenen drei Wochen seines Aufenthalts verkauft hat, wisse er nicht genau: „So um die 40 oder 50.“ Nun sitzt er leger im Unterhemd, mit verschränkten Beinen auf dem Bett im Zimmer 505 des Hotels Istanbul in der türkischen Grenzstadt Kilis. Es ist ein Billighotel, in dem Flüchtlinge und vor allem Geschäftsleute ein- und ausgehen. Deshalb sei er hier, nicht wegen der günstigen Zimmerpreise. „Meine Familie war schon immer reich“, hält der Autohändler nicht ohne Stolz fest. „Und ich mache auch sehr gute Geschäfte.“

Zwischen 500 und 1000 Euro bleiben ihm pro Fahrzeug als Nettogewinn. Deshalb kann er es sich leisten, dass seine Frau und die Kinder im Libanon leben. Selbstverständlich hausen sie nicht in ärmlichen Verhältnissen eines Lagers, wie das viele andere der syrischen Flüchtlinge dort tun müssen. „Nein, nein, um Gottes Willen“, lacht Mohammed, „Ich habe ihnen ein Haus gemietet, und die Kinder gehen dort auf eine Privatschule.“

Das Autogeschäft Mohammeds funktioniert relativ einfach. Er verschickt Fotos der zum Verkauf stehenden Wagen an seinen Kundenkreis. Nachdem man sich auf einen Preis geeinigt hat, hinterlegt der Kunde den Kaufbetrag in der Wechselstube in Raqqa. Sobald das geschehen ist, wird das Fahrzeug an die Grenze gebracht. Die türkischen Zöllner verlangen 1000 Lira, umgerechnet 300 Euro an Zollgebühren. Auf der syrischen Seite zahlt Mohammed rund 100 Euro an die Rebellengruppe, die den Grenzposten kontrolliert. Ein syrischer Fahrer übernimmt den Wagen und bringt ihn schließlich zum Kunden.


Keine Gewissensbisse

„Mit IS-Leuten gibt es nie Probleme bei der Übergabe“, erzählt Mohammed. „Vorausgesetzt das Auto ist in dem Zustand, den ich versprochen habe. Dann wird ohne Murren der volle Preis bezahlt.“ Sie seien äußerst angenehme Geschäftspartner, mit al-Qaida in Idlib, der al-Nusra-Front also, sei das anders. „Wenn man zu den Gebetszeiten in der Moschee ist, nicht auffällt und sich immer ruhig verhält“, versichert Mohammed, „dann hat man keine Probleme mit dem IS.“

Sein Geld lässt sich Mohammed in Dollar über „Hawala“ in die Türkei schicken. Das ist ein informelles Überweisungssystem, das wie Western Union funktioniert. Er sei doch nicht verrückt, sagt Mohammed, und fahre mit Tausenden von Dollars in der Tasche durch ein unberechenbares Kriegsgebiet. Gewissensbisse kennt er nicht. „Es geht ums Geschäft, und das hat mit Politik nichts zu tun.“ Ob er nun an den IS verkaufe, an andere Rebellen, die Kurden, Turkmenen oder Christen, es sei immer das Gleiche. Er sei schon lange vor dem Bürgerkrieg Autohändler gewesen, niemand könne ihm da etwas vorwerfen. „Und nur, weil ich auch Geschäfte mit dem IS mache, heißt das noch lange nicht, dass ich ihn gut finde.“ Mohammed nennt die Extremisten „Besatzer“, die die Bewohner seiner Heimatstadt unterdrückten. „Sie müssen bald verschwinden, und das ist gut so.“ In den vergangenen Monaten sei er bei Aufenthalten jedes Mal angesprochen worden, ob er IS-Kämpfer aus der Stadt schmuggeln könne, erzählt Mohammed. „Früher hat mich das in Raqqa niemand gefragt.“ Die Türkei habe die Grenze ohnehin dichtgemacht.


Mehr Lohn für die Ausländer

Mohammed ist nicht der Einzige, der von der Schieflage des Kalifats, der Machtwillkür und der umgehenden Angst berichtet. Da ist etwa das geheime Netzwerk, das sich „Raqqa is being slaughtered silently“ (RISS) nennt. Es hat in der Hochburg des IS insgesamt 18 Reporter. „Der IS hat gewaltige interne Querelen“, sagt Saramad al-Jilane, einer der Gründer des Netzwerks im Zentralbüro an einem geheimen Ort in der türkischen Stadt Gaziantep. Es gebe eine Kluft zwischen ausländischen und syrischen Kämpfern.

Die Ausländer bekämen mehr Lohn, bessere Unterkünfte und Autos, die Syrer würden für Selbstmordattentate verheizt. „Das schafft natürlich Konflikte, die oft mit der Waffe ausgetragen werden“, meint al-Jilane, der wie andere RISS-Mitglieder auf der Todesliste der Islamisten steht. Insgesamt befänden sich nur etwa 3000 bis 4000 Kämpfer in Raqqa, die würden aber genügen, um die Gewaltherrschaft aufrechtzuerhalten. Sollte die Offensive auf die Stadt beginnen, würden zur Verstärkung Truppen aus anderen Städten einberufen. Ein Islamischer Staat existiere in Raqqa nicht, hält al-Jilane fest. „Den gibt es nur in der Propaganda des IS – er ist ein Fantasieprodukt.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.10.2015)