Die Presse, 24.10.2015

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„Kein Platz mehr in Syrien, um zu fliehen“

Das russische Bombardement sorgt in Syrien ebenso für neue Flüchtlingswellen wie das Erstarken der Taliban in Afghanistan, warnen die örtlichen Zuständigen der Organisation World Vision.

Oliver Grimm (Die Presse)

Wien. Vor Kurzem hat Syrien die Schwelle überschritten: Erstmals sind mehr der einst rund 23 Millionen Syrer auf der Flucht als noch an ihren Wohnorten. Die meisten der knapp zwölf Millionen Vertriebenen sind innerhalb der Landesgrenzen, doch dort wird es für sie immer enger, seit die russische Luftwaffe das Regime von Präsident Bashar al-Assad mit Bombenangriffen unterstützt, warnt Wynn Flaten von der Hilfsorganisation World Vision, der vom jordanischen Amman aus mit rund 450 Mitarbeitern die Unterstützung der Vertriebenen leitet. „Immer mehr Leute verlassen Aleppo, Idlib und Latakia. Die Russen sind bei ihren Bombardements nämlich ziemlich gründlich. Es naht der Moment, in dem es in Syrien so gut wie keinen Ort mehr gibt, an den man fliehen kann“, sagte Flaten am Freitag zur „Presse“.

Ähnlich prekär wird die ohnehin schon schwierige Lage für jene rund vier bis fünf Millionen Syrer, die grenznah in Jordanien, dem Libanon und der südlichen Türkei Zuflucht gesucht haben. Über diese Menschen mache man sich in Europa oft ein falsches Bild, sagt Flaten, der schon vor drei Jahrzehnten in Afghanistan mit ähnlichen Phänomenen kriegsbedingter Massenvertreibung zu tun hatte. Der erste Irrtum betreffe die Lebensumstände der Vertriebenen. „Die meisten syrischen Flüchtlinge im Libanon und Jordanien leben nicht in Lagern, sondern privat untergebracht oder in informellen Zeltsiedlungen. Viele würden eher nach Syrien zurückgehen als in ein Flüchtlingslager. Es ist nämlich schwer, wieder herauszukommen. Die Flüchtlinge haben große Sorgen, ihre Unabhängigkeit zu verlieren.“


Gesellschaftlicher Rückfall um 30 Jahre

Zweitens sei es mehrheitlich die syrische Mittelschicht, die fliehe, warnt Flaten: „Die meisten Syrer sind gut gebildet und tatkräftig.“ Daraus folge jedoch eine große Bürde für Syriens Zukunft: „Meine Sorge ist der starke Braindrain. Es wird schwerer und schwerer, Ärzte in Nordsyrien zu finden.“ Die Tatsache, dass viele junge Männer fliehen, sei wenig verwunderlich: „Das ist logisch. Man schickt in einer Familie zuerst die Jungen, Starken auf so eine Reise, nicht die Frauen und Kinder.“

Ähnlich verschärfe sich nun die Situation in Afghanistan, hält Jim Alexander fest, der in Herat ansässige Landeskoordinator von World Vision. „Die Afghanen sind jetzt die zweitgrößte Gruppe der Flüchtlinge. Als Erste gehen immer jene, die das Geld, die Mittel und den Ausblick auf Chancen im Ausland haben. Das sehen wir erneut seit vier Monaten.“ In Kunduz überstiegen die Gräueltaten nach dem Erstarken der Taliban selbst das, was die meisten Afghanen ertragen können. „In Herat kann man wiederum beobachten, wie Geschäftsinhaber alles verkaufen und fliehen.“

Für das seit 1979 und dem Einmarsch der Roten Armee dauerhaft vom Krieg zerrüttete Land ist das ebenso schlecht wie für Syrien: „Diese Länder werden wegen dieser Auswanderungswelle arg zurückgeworfen. Wir sind in Afghanistan jetzt wieder dort, wo wir in den Achtzigerjahren waren. Man kann in Deutschland kein Warlord sein. Die Jihadisten kommen nicht. Darüber müssen Sie sich in Europa keine Sorgen machen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.10.2015)