welt.de, 25.10.2015

http://www.welt.de/politik/deutschland/article148000066/EU-Kommission-haelt-Tuerkei-kritischen-Bericht-zurueck.html

Wegen Flüchtlingen?

EU-Kommission hält Türkei-kritischen Bericht zurück

Die EU hofft auf Hilfe der Türkei in der Flüchtlingskrise. Millionen Menschen sind dort inzwischen gestrandet. Deshalb bleibt offenbar ein kritischer Bericht über die Lage im Land unter Verschluss. Von Daniel-Dylan Böhmer

Die EU-Kommission will die Veröffentlichung eines kritischen Fortschrittsberichtes über die Türkei offenbar bis nach den Neuwahlen zum türkischen Parlament verzögern. Die Vorlage des Dokumentes wurde in dieser Woche bereits zum zweiten Mal ohne Begründung verschoben. Möglicherweise will man dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan (Link: http://www.welt.de/themen/recep-tayyip-erdogan/) vor der Wahl am kommenden Sonntag neue Vorwürfe ersparen, weil man auf seine Unterstützung in der Flüchtlingskrise hofft.

Der Bericht, dessen vorläufige Fassung der "Welt am Sonntag" vorliegt, bescheinigt der Türkei nicht nur Defizite, sondern sogar Rückschritte bei Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit. Die Türkei, mit der die Verhandlungen 2005 unter dem damaligen Premierminister Erdogan begannen, scheint sich, gemessen an EU-Standards, rückwärts zu entwickeln.

"In den letzten zwei Jahren gab es bedeutende Rückschritte auf dem Gebiet der Meinungs- und Versammlungsfreiheit", heißt es im Text. "Die Meinungsfreiheit wird häufig infrage gestellt durch parteiische und restriktive Interpretation der Gesetzgebung, politischen Druck, Kündigungen und häufige gerichtliche Klagen gegen Journalisten." Derzeit seien nach OSZE-Angaben (Link: http://www.welt.de/themen/osze/) mehr als 20 Journalisten inhaftiert. Erdogan und seine Anwälte hatten in der jüngsten Vergangenheit Klagen gegen mehrere Journalisten angestrengt.

"Einschüchterungen" beträfen auch andere Bürger: "Die Versammlungsfreiheit ist übermäßig beschränkt durch Rechtslage und -praxis und die übermäßige Anwendung von Gewalt bei der polizeilichen Begleitung von Demonstrationen sowie mangelnde rechtliche Sanktionen gegen Gesetzeshüter", heißt es. Zwar lobt der Bericht die Kooperation der Türkei bei der Terrorbekämpfung, verlangt aber: "Das Phänomen der ausländischen Kämpfer bedarf eines entschlossenen Vorgehens des Geheimdienst- und Polizeiapparats und einer umfassenden Antiradikalisierungsstrategie der Justiz." Der Türkei wurde wiederholt vorgeworfen, sie akzeptiere oder unterstütze gar die Durchreise militanter Islamisten zum IS nach Syrien (Link: http://www.welt.de/themen/islamischer-staat/) .

Erfolg der HDP lässt Erdogan von Neuwahlen träumen

Besonders deutlich wird der Bericht bei der Kurdenfrage: "Es ist zwingend erforderlich, dass der Friedensprozess mit den Kurden wieder beginnt." Seit Juli bekämpfen sich die militante Kurdische Arbeiterpartei PKK und türkische Soldaten. Die Sicherheitslage habe sich "dramatisch verschlechtert", hält der Bericht fest und beklagt die Gewalt gegen die legale prokurdische Partei HDP.

Dass es ihr bei der letzten Wahl Anfang Juni gelungen war, mit dem Sprung über die Zehnprozenthürde ins Parlament einzuziehen und damit Erdogans absolute Mehrheit zu brechen, gilt als eigentlicher Grund dafür, dass Erdogan und seine islamische AKP auf Neuwahlen hinarbeiteten. "Erdogan will in der Türkei ein autoritäres präsidiales System errichten – islamisch geprägt wie Malaysia, aber in seiner Unfreiheit Russland ähnelnd", glaubt der Politologie-Professor Cengiz Aktar vom Thinktank Istanbul Policy Center, der in einer frühen Phase der Beitrittsverhandlungen involviert war.

Dass der EU die freundliche Kooperation mit Erdogan in der Flüchtlingshilfe etwas nutzt, hält Aktar für unwahrscheinlich: "Geld aus Brüssel wird die Flüchtlinge nicht auf Dauer zum Bleiben bewegen", sagt Aktar, der auch als Experte für das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR (Link: http://www.welt.de/142683531) tätig war. "Sie gehen, weil sie in der Türkei nicht arbeiten dürfen und keine Grundrechte als Flüchtlinge genießen." Aktar befürchtet Schlimmes: Wenn Erdogan seine Macht zementiere, dann drohe Europa "ein Exodus der säkularen Mittelschicht" aus der Türkei.