junge Welt, 27.10.2015

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»Tiefer Staat« und IS
Vor den Wahlen simuliert die türkische Regierung den Antiterrorkampf. Opposition wirft Ankara vor, Ermittlungen zu Giftgaslieferungen für Islamisten in Syrien zu verschleppen
Von Peter Schaber

Sieben Kämpfer des »Islamischen Staats« (IS) und zwei Polizisten starben am Montag, als in den frühen Morgenstunden Spezialeinheiten der türkischen Sicherheitskräfte das Versteck einer IS-Zelle in Diyarbakir stürmten. Der Vorfall wirft ein Schlaglicht auf die zunehmenden Aktivitäten der vor allem im Irak und Syrien operierenden Terrormiliz in der Türkei. Seit dem verheerenden Anschlag in Ankara, bei dem am 10. Oktober über hundert linke Aktivisten durch zwei Explosionen während einer Friedensdemonstration getötet wurden, steht dabei eine als »Dokumacilar« bekannte Zelle aus der südöstlichen Provinz Adiyaman im Mittelpunkt der Ermittlungen. Die nach ihrem Leiter Mustafa Dokumaci benannte Islamistengruppe, die sich als Teil des IS versteht, war nach bisherigen Erkenntnissen nicht nur am Massaker in der türkischen Hauptstadt beteiligt, sondern wird auch hinter zwei weiteren tödlichen Bombenattentaten gegen kurdische und linke Gruppierungen vermutet: Sie soll sowohl den Anschlag auf eine Kundgebung der Demokratischen Partei der Völker (HDP) im Juni 2015 in Diyarbakir verübt haben, wie auch den, der im Juli in der südtürkischen Grenzstadt Suruc über 30 Menschen das Leben kostete.

Die Geschichte der »Dokumacilar«, soweit sie bislang öffentlich zugänglich ist, wirft eine Reihe von Fragen auf, die mit dem Verhältnis des türkischen Staates zum IS zu tun haben. Die Zelle war den Behörden keineswegs unbekannt, seit 2013 wussten Polizei und Justiz von ihrer Existenz. Mitglieder der Gruppierung wurden abgehört und überwacht. Zudem standen die Namen der Angreifer auf einer Liste »potentieller Selbstmordattentäter«, die türkische Behörden erstellt hatten. Dennoch wurden diese Personen aber nicht verhaftet. Der Vater des »Dokumacilar«-Mitglieds Ömer Deniz Dündar hatte wiederholt die Polizei aufgefordert, seinen Sohn zu verhaftet, da er illegale Aktivitäten plane. Auch das geschah nicht.

Diese Unstimmigkeiten und der Umstand, dass sich die Selbstmordattentate bislang immer gegen Gegner von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und dessen AKP-Regierung richteten, haben die türkische Opposition in der Auffassung bestärkt, dass der »tiefe Staat« in die Attentate verwickelt sein könnte. »Die Fakten deuten stark auf eine Verwicklung des türkischen Staates bei den jüngsten Anschlägen der Dokumacilar hin«, kommentierte kürzlich das deutsch-kurdische Informationszentrum »Civaka Azad«. »Verwundern würde das nicht. Denn die AKP-Regierung hat in der jüngeren Vergangenheit in Syrien auch vor einer Zusammenarbeit mit dem IS nicht zurückgeschreckt und setzt gegenwärtig ihre Zusammenarbeit mit den islamistischen Gruppen der Al-Nusra-Front und Ahrar Al-Scham fort.«

Die Kooperation türkischer Sicherheitskreise und terroristischer Milizen in Syrien in den vergangenen Jahren wird durch zahlreiche Belege und Augenzeugenberichte dokumentiert: so von Waffenlieferungen, der Öffnung von Grenzabschnitten für Militante und der Behandlung von verletzten Kämpfern in türkischen Krankenhäusern.

Seit vergangener Woche steht nun ein weiterer Vorwurf im Raum, der von großer politischer Brisanz ist. Zwei Abgeordnete der größten Oppositionspartei CHP wandten sich in einer Pressekonferenz an die Öffentlichkeit und beschuldigten die Regierung in Ankara, Ermittlungen zu möglichen Lieferungen von Sarin aus der Türkei an den »Islamischen Staat« zu verschleppen. Bei einem Angriff mit dem chemischen Kampfstoff in der syrischen Region Ghuta waren im August 2013 mehrere hundert Menschen gestorben. Im Westen wurde seinerzeit umgehend die Regierung Baschar Al-Assads als Schuldiger ausgemacht, es wurden aber auch immer wieder Stimmen laut, die islamistische Milizen für die Angreifer hielten.

Die CHP-Parlamentarier Erem Erdem und Ali Seker behaupten laut der Zeitung Zaman unter Bezugnahme auf Dokumente aus Vorermittlungen der Staatsanwaltschaft, dass Sarin von der Türkei aus nach Syrien geliefert wurde. Eine ihnen vorliegende Akte enthalte »alle Details, wie Sarin in der Türkei produziert und an Terroristen geliefert wurde, auch Aufnahmen von Gesprächen«, so Erem Erdem. Ali Seker ergänzte, er sei sicher, dass »der türkische Geheimdienst von diesen Aktivitäten wusste«.