Tagesspiegel, 26.10.2015 http://www.tagesspiegel.de/politik/antisemitismus-in-der-tuerkei-hass-gegen-juden-allah-solle-hitler-segnen/12497310.html?p= Antisemitismus in der Türkei Von Cigdem Toprak Vor 500 Jahren fanden die Vorfahren der heutigen türkischen Juden im Osmanischen Reich Schutz vor dem europäischen Antisemitismus und haben zum multikulturellen Leben des Landes positiv beigetragen. Heute sind sie als türkische Staatsbürger antisemitischen Hassparolen in den türkischen Medien schutzlos ausgeliefert. Die türkische Regierung schaut tatenlos zu, wie ihre eigenen jüdischen Staatsbürger von Popstars, regierungsnahen Journalisten und Twitter-Usern für den Israelisch-Palästinensischen Konflikt, für kritischen Journalismus und sogar den PKK-Terror angefeindet werden. In Zeiten der Pressezensur, der schwächelnden Unabhängigkeit der Justiz und einem bewaffneten Konflikt in der Türkei existiert momentan keine Kraft, dem Antisemitismus effektiv entgegenzusteuern. Die Türkei steckt in einer tiefen politischen Krise. Parlamentswahlen, gescheiterte Koalitionsgespräche und Neuwahlen werden von terroristischen Anschlägen begleitet, die von der PKK gegen türkische Soldaten und von der islamistischen Terrormiliz Islamischer Staat (IS) gegen Zivilisten verübt werden. Das jüngste Selbstmordattentat auf eine Friedenskundgebung in der Hauptstadt Ankara brachte über 100 Opfer und hunderte Verletzte. Während eine Entschärfung der politischen Krisensituation momentan nicht in Aussicht ist, spaltet sich die Gesellschaft immer stärker und die aktuelle Krise schürt Hass zwischen den verschiedenen ethnischen und politischen Gruppen in der Türkei. Mit jedem weiteren politischen Konflikt in der Türkei gerät besonders eine religiöse Gruppe immer wieder ins Visier von Hassparolen und Hetzen. „jüdische Vaterlandsverräter“ Man beschimpft kritische Zeitungen als „jüdische Vaterlandsverräter“ und „heimliche Verbündete des Staates Israel“, die den Terror in der Türkei unterstützen würden, wie vor allem die Tageszeitung "Hürriyet" der Dogan-Mediengruppe, welche im Clinch mit der türkischen AKP-Regierung steht. Ein User schimpft beispielsweise auf dem Nachrichtendienst Twitter: “Solange aus diesem Land nicht die jüdisch-stämmigen Dogan Medien verschwinden, wird dieser Terror nicht aufhören.“ Wenn die pro-kurdische Partei HDP beschuldigt, für die Terrorangriffe der PKK auf türkische Soldaten verantwortlich zu sein, dann schrecken User nicht davor zurück, die HDP auch als „Judenknecht“ zu bezeichnen und auch ihnen eine heimliche Allianz mit Israel unterzustellen. Aber auch die türkischen Juden selbst werden neben anderen Minderheiten zur Zielscheibe von Feinseligkeiten, so heißt es in einem anderen Tweet: „Dieses Land gehört nur dem türkischen Volk, das ist seit 7000 Jahren so, Tscherkessen, Lasen, Juden und Kurden sind nur Flüchtlinge in diesem Land!“ Erdogan als "Judenknecht" „In der Türkei existiert heute Antisemitismus. Wer dies verleugnet, der lügt“, sagt der Chefredakteur der türkisch-jüdischen Zeitung Salom und Berater des Chef-Rabbiners der Türkei, Ivo Molinas im Gespräch in einem schicken Café in Nisantasi, einem der säkular-modernen und edlen Vierteln Istanbuls. „Alles was ihnen zuwider ist, Musik, Kunst oder eine Lebensart wird „zur jüdischen Musik, jüdischen Kunst“ gemacht. Es findet eine Dämonisierung statt“, erzählt Molinas weiter. Anschläge auf Synagogen Noch heute sieht man die Spuren des jüdischen Lebens in Istanbul, wenn man beispielsweise „im Herzen Istanbuls“ im europäischen Stadtteil Beyoglu als Tourist auf die rote Straßenbahn aufsteigen möchte – denn ihr Vorreiter als Pferdestraßenbahn wurde von der bekannten jüdischen Bankiersfamilie Camondo im 19. Jahrhundert nach Istanbul gebracht, die insbesondere neben anderen wohlhabenden jüdischen Kunst- und Kulturliebhabern das Stadtbild in Galata und Pera mit eindrucksvollen Bauten prägten. Es war die Camondo-Familie, die das erste Gemeindewesen nach dem französischen Vorbild in Beyoglu einführte und somit stark zur Modernisierung der Stadt beigetragen hat. Das damals von Europäern bewohnte Beyoglu war ein Fleck der westlichen Moderne im islamischen Osmanischen Reich. Die heute rappelvolle Einkaufsstraße Istiklal durfte im Osmanischen Reich nur von Diplomaten, Geschäftsmännern und hochrangigen Angestellten des Osmanischen Staatsapparatus besucht werden. Es war der Ort, an dem bedeutende osmanisch-muslimische Frauen ihren Gesichtsschleier abnehmen konnten. Neve-Shalom Synagoge für Besucher nicht frei zugänglich Das ist nicht unverständlich, denn die Neve-Shalom Synagoge erlitt seit ihrer Gründung 1951 bereits drei Anschläge, bei denen Dutzende von Menschen um ihr Leben gekommen sind. Bei einem Attentat palästinensischer Terroristen im Jahre 1986 während eines Gebets kamen 25 Menschen um, ein weiterer Anschlag sechs Jahre später konnte durch Sicherheitskräfte verhindert werden. Nicht so im Jahre 2003 bei den bei mehreren Anschlägen in Istanbul auch sechs jüdische Gemeindemitglieder in der Neve-Shalom-Synagoge zu Gewaltopfern wurden. Auch der jüdische Schwiegervater der türkischen Kolumnisten S.N. sei im jüngsten Anschlag verletzt worden. (Sie möchte nur mit ihren Initialen benannt werden) S.N. stammt aus einer modernen laizistisch geprägten muslimischen Familie, in den religiösen Ritualen wie Ramadan Bedeutung gegeben und niemals Ressentiments gegenüber nicht-Muslimen gepflegt wurden. „Eigentlich existieren zwischen dem Judentum und dem Islam in ihren religiösen Ritualen viele Gemeinsamkeiten wie die Beschneidung, das Verbot von Schweinefleisch und die Opfergabe“. SN ist seit fünfzehn Jahren mit ihrem jüdisch-türkischen Ehemann verheiratet. „Wir haben aus Liebe geheiratet und konnten unsere Familie von unserer Entscheidung überzeugen.“ Gemeinsam haben sie entschieden, ihre Kinder jüdisch zu erziehen. Juden in der Türkei leben in ständiger Sorge Denn die Juden in der Türkei seien immer alarmiert, so Ivo Molinas. Mit welcher Besorgnis um die eigene Sicherheit es sich als jüdischer Staatsbürger in der Türkei lebt, das bekommen viele Nicht-Juden nicht oft mit. So habe S.N. erst in ihrer Ehe erfahren, dass in der Türkei Antisemitismus herrsche. „Meine erste Erfahrung mit der Angst vor Antisemitismus habe ich während unseres gemeinsamen London-Aufenthalts gemacht, als ich Chanukka-Kerzen an einem Wohnungsfenster sah und ich meinem Mann vorschlug, das auch bei uns Zuhause in Istanbul anzubringen. Mein Mann wehrte sich dagegen, denn so wüssten die Menschen, dass wir Juden seien.“ Sie habe erst dann erfahren und verstanden, dass jüdischen Kindern zwei Namen gegeben werden und dass je nach Situation und Gesellschaft entweder nach dem türkischen oder der jüdischen Namen gerufen wird. „Ich habe gesehen, dass Juden in der Türkei ihre Identität verbergen, damit sie nicht auffallen“, erzählt S.N. Ein diplomatischer Wendepunkt: Israelfeindlichkeit der AKP Die Zahlen über die Seitenanrufe zeigen, dass 90 % der Leser nicht-jüdischen Glaubens sind. Viele Drohungen und Beleidigungen werden an die Zeitung gerichtet, aber auch Kommentare wie "Ich kannte euch davor nicht, ihr seid ja normale Menschen wie wir, ihr trauert und feiert auch, man hat euch uns falsch vorgestellt, Allah sei Dank dem Internet und dank Salom haben wir das Judentum kennengelernt.“ So seien Muslime neugierig gegenüber den Juden in der Türkei, insbesondere nach dem Mavi Marmara Vorfall sei das Interesse gestiegen, so der Chefredakteur. Das tragische Ereignis war ein Desaster für die israelisch-türkischen Beziehungen, bei dem eine türkische Hilfsflotte im Mai 2010 die Gaza-Blockade durchbrach und zehn türkische Aktivisten durch Angriffe der israelischen Soldaten auf das Schiff ums Leben kamen. Die Türkei und Israel pflegten stets stabile Beziehungen. Als erstes muslimisches Land erkannte die Türkei den Staat Israel an und seit 1996 wurden die militärischen und wirtschaftlichen Kooperationen verstärkt. So investieren beispielsweise israelische Firmen in das größte regionale Entwicklungsprojekt der Türkei, dem Südostanatolien-Projekt. Das Ereignis brachte nicht nur einen diplomatischer Wendepunkt im sowieso schon angeschlagenen Verhältnis seit der AKP-Regierung zwischen der Türkei und Israel, sondern bedrohte die Sicherheit insbesondere für die Juden im eigenen Lande. AKP äußert sich israelfeindlich Dennoch schreckt auch die AKP nicht vor israelfeindlichen Äußerungen zurück, um von der Verantwortung der Regierung für innenpolitische Ereignisse abzulenken. So wirft Erdogan Israel „Staatsterror“ vor, beschimpft einen Protestanten nach dem tragischen Minenunglück in Soma als „israelische Brut“ und ein AKP-Politiker behauptet, hinter den Gezi-Protesten von 2013 stecke die „jüdische Diaspora“. Die Haltung der AKP-Regierung gegenüber der jüdischen Community im eigenen Lande bleibt widersprüchlich. Die türkische Regierung finanziert die Restaurierung der Großen Synagoge von Edirne, der drittgrößten Synagoge Europas mit mehr als zwei Millionen Euro und eröffnet sie Anfang des Jahres mit einer staatlichen Zeremonie, was ein historisches Ereignis in der türkischen Republik ist. Auch habe die jüdische Community heute sehr gute Beziehungen zur AKP-Regierung, erzählt Molinas. Aber auch er wundert sich: Denn die AKP-Regierung schaut tatenlos zu, wie regierungsnahen Zeitungen volksverhetzende Äußerungen veröffentlichen. Molinas spricht von einem „erschreckenden Antisemitismus“, der zwar in der Türkei immer existiert habe, aber heute sichtbarer ist denn je. Bereits in den jungen Jahren der türkischen Republik bekannt als die „Thrakien-Vorfälle“ fanden 1934 Pogrome gegen Juden in Edirne und Canakkale als Folge von hetzerischen Schriften über Juden statt, bei denen Geschäfte zerschlagen und jüdische Frauen vergewaltigt wurden. Auch die „September-Vorfälle“ von 1955 die vorrangig den griechisch-orthodoxen Bürgern in Istanbul, Izmir und Ankara galten, waren traumatische Erlebnisse, denen auch armenische und jüdische Türken zu Opfern fielen. Ein Großteil der Gemeindemitglieder wanderte aus. Während noch vor 1948 über 120 000 Juden leben, ist die Zahl erheblich geschrumpft. Vor allem junge türkische Juden verlassen ihre Heimat, die keine Perspektive mehr in der Türkei sehen. Segenswünsche für Adolf Hitler „Wir wissen nicht, verstehen nicht, warum dieser Antisemitismus in den regierungsnahen Zeitungen existiert. Sie ernähren sich, indem sie sich Feinde schaffen und dieser Feind ist oft „der Jude“. Das muss aufhören, jeder Staatsanwalt in Europa würde diese antisemitischen Äußerungen ans Gericht bringen. Aber hier werden die Verfahren nicht einmal eröffnet, selbst wenn man als Betroffener Anzeige erstattet.“, so Molinas. Popsängerin twitterte "Allah solle Hitler segnen" In Zeiten von Pressezensur in türkischen Medien werden Journalisten, die sich schützend vor Minderheiten stellen, auch Zielscheibe von feindlichen Angriffen und eben gerne als „Judenknechte“ beschimpft. „Wir wollen keine Sonderrechte, sondern als gleichwertige Bürger dieses Landes respektiert werden“, unterstreicht Molinas, der sich nicht davor scheut, sich als Türke zu bezeichnen. Seine jüdische Identität empfindet der Journalist als eine kulturelle, die natürlich durch das Judentum beeinflusst sei. Zu Israel fühle sich Molinas mit Herzen verbunden, aber er erwäge nicht nach Israel auszuwandern, wie dies jährlich etwa 150 jüdisch-türkische Staatsbürger tun. „Natürlich bin ich betrübt, wenn in der Türkei falsche und manipulierte Informationen über Israel in den Medien wiedergegeben werden.“ Jüdische Geschäftsmänner im Visier der türkischen Justiz Dennoch geraten die wenigen, bedeutenden jüdisch-türkischen Geschäftsmänner wie Cem Hakko, dem die bekannte Textilmarke „Vakko“ gehört oder der Vorstandsvorsitzender Ishak Alaton der Alarko Unternehmensgruppe ins Visier der türkischen Justiz. Hakko wurde 2007 vorgeworfen mit Äußerungen auf einer Privatveranstaltung das Türkentum zu beleidigen. Hakko dementierte es. Jüngst wurden die seit einem Jahr andauernden Ermittlungen der Staatsanwalt Ankara gegen den 88-jährigen Ishak Alaton bekannt, mit dem Vorwurf die Gülen-Bewegung in der Türkei finanziell zu unterstützen, die, so behauptet es die AKP, Putschversuche gegen die türkische Regierung unternommen und Parallelstrukturen im türkischen Staat etabliert habe. Der Journalist Yavuz Baydar bezeichnete in seiner Kolumne in der Tageszeitung „Birgün“ die Ermittlungen gegen Alaton als „absurd“ im Zusammenhang mit den besorgniserregenden Entwicklungen in der Türkei, bei denen Recht und Gesetz dafür missbraucht wird, die Opposition zum Schweigen zu bringen. Ermittlungen gegen Vorstandsvorsitzenden Dabei gilt der in der Türkei geborene und aufgewachsene nicht nur als eine der erfolgreichsten Unternehmer der Türkei, sondern ist ein überzeugter Verfechter der Demokratie und Menschenrechte in der Türkei. Alaton setzt sich für die Anerkennung des Armenien-Genozids sowie für Minderheitenrechte ein. Im selben Interview klagte Alaton: „Einer meiner größten Frustrationen ist, dass ich trotz meiner ganzen Bemühungen der Türkei nicht eine zivilisierte, liberale Sozialdemokratie erklären konnte.“ Alaton hätte wie viele der türkischen Juden die Türkei verlassen können, die um ihr Leben und ihre Existenz in der Türkei Angst haben. So wie es Alatons jüngerer Bruder tat, nach dem er Augenzeuge der schrecklichen Übergriffe auf nicht-muslimische Geschäfte in türkischen Großstädten wurde. Er wanderte 1955 nach Schweden aus und kam nie wieder in die Türkei. Alaton habe seit zwanzig Jahren nicht mehr mit seinem Bruder gesprochen, weil sich sein Bruder gegen und Alaton sich für das Leben als Türke entschieden habe.
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