Tagesspiegel, 26.10.2015

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Ein Berliner kämpft mit den Kurden gegen den Islamischen Staat
Wem die Stunde schlägt

Von Hannes Heine
Die Sprache kann er schon. Jetzt lernt er, wie man ein Maschinengewehr bedient. Warum sich ein Berliner Erzieher dafür entscheidet, mit den Kurden gegen den Islamischen Staat zu kämpfen.

Als dann alles zu den Bluttaten im Nahen Osten gesagt ist, steht der junge Mann zügig auf und verabschiedet sich leise: „Vielleicht sehen wir uns ja noch mal.“

Vielleicht. Am Ende dieses Herbstvormittags verlässt der Mann das Café im Berliner Zentrum. Er will Socken kaufen, Vokabeln lernen, Bücher verschenken. Schnell, aber ohne Hektik läuft er - in sauberen Jeans, grauen Turnschuhen und blauer Windjacke - zur U-Bahn. Schlank ist er, Ende 20, mit dunkelblonden Locken. Der ausgebildete Erzieher passt gut ins hippe Berlin.

Vielleicht wird ihn der türkische Geheimdienst festnehmen. Oder der deutsche Staatsschutz. Vielleicht kommt es noch schlimmer, und er wird bald entführt, gefoltert, geköpft. Oder durch Bomben verstümmelt.

Seinen Namen verrät der junge Mann nicht. Ein paar Tage nach dem Treffen in Berlin fliegt er, nennen wir ihn Sven Müller, ans Mittelmeer. Ob nach Italien oder Griechenland, will er nicht sagen - jedenfalls reise er nicht direkt in die Türkei.

Über die Grenze nach Syrien
Müller möchte nach Diyarbakir, die Kurdenhochburg im Südosten der Türkei. Dort jagt die Armee kurdische Rebellen, ein Bürgerkrieg droht. Aus Diyarbakir schickt Müller eine anonyme E-Mail: „Angekommen.“ Der Deutsche hat sich dort mit einem Einheimischen getroffen, dessen Nummer ihm ein kurdischer Freund in Berlin gegeben hatte.

Die beiden warten auf andere Freiwillige aus Westeuropa. Hält der Kontaktmann die Lage für günstig, wollen sie mit einem Kleinbus die 80 Kilometer zur Grenze fahren und dann zu Fuß nach Syrien laufen. Noch geht das. Die türkische Regierung lässt gerade eine 3,5 Meter hohe Mauer errichten.

Auf syrischem Gebiet angekommen, wird es nur noch darum gehen, aus Sven Müller einen Kombattanten zu machen. In einem Camp der kurdischen Volksverteidigungseinheiten, kurz YPG, soll er ausgebildet werden, um sich den wohl brutalsten Massenmördern unserer Zeit entgegenzustellen: den Fanatikern des sogenannten Islamischen Staates (IS).

Müller wird wochenlang mit den YPG-Milizen trainieren, vermutlich nahe Ras a-Ain. Er wird lernen, Maschinengewehre zu bedienen, Kommandos auf Kurdisch, Türkisch, Arabisch zu verstehen, verdächtige Auto zu identifizieren.

Sandsäcke stapeln, Sterben?
Wie hoch sind die Chancen, dass er die Reise nicht überlebt? „Keine Ahnung“, sagt Sven Müller scheinbar unbeeindruckt. „20 Prozent vielleicht?“

Klar habe er Angst, aber der Wunsch, dabei zu sein, wiege schwerer. Dabei zu sein beim Stapeln von Sandsäcken, beim Sterben? Dabei zu sein, sagt Müller, wenn „Geschichte geschrieben wird“. Er geht nicht trotz, sondern wegen des Krieges nach Syrien. Der sei „einer der Kämpfe, für die es sich lohnt, viel zu riskieren“.

Dieser Krieg dauert schon vier Jahre. Dutzende Milizen kämpfen mit- und gegeneinander, hinzu kommen US-amerikanische, französische, iranische und russische Einheiten, die sich in Syrien bewegen. Die Kurden kämpfen mit christlichen Aramäern und der Freien Syrischen Armee zusammen. Mit den syrischen Regierungstruppen gibt es einen Waffenstillstand. Vor allem aber will die US-Armee zusammen mit der YPG nun Rakka erobern - das IS-Hauptquartier.

Bislang wurde hierzulande meist von gekränkten Einwandererkindern erzählt, die nach Syrien reisen, um dem IS beim Morden zu helfen. Von Jungen, manchmal auch Mädchen, die sich in Hinterhof-Moscheen deutscher Städte radikalisieren und in den Dschihad ziehen. Kaum aber jemand erfährt von Menschen wie Sven Müller. Von deutschen Freiwilligen, die aus Solidarität durch den Staub der YPG-Camps robben.

Zivilisation gegen Barbarei
Als vor einem Jahr die Bilder der vom IS belagerten syrischen Grenzstadt Kobane um die Welt gingen, kam das Leid der Kurden in westlichen Wohnzimmern an. In einigen Berliner Clubs geht das Trinkgeld seitdem an die Spendensammler von „Eine Feuerwehr für Rojava“ - so wird das Kurdengebiet in Syrien genannt. Auf Facebook unterstützen 31 000 Nutzer die Kampagne „Lions for Rojava“ symbolisch. Und neben Linken kämpfen Christen aus den USA, Gewerkschafter aus Australien, ein Ex-Model aus Kanada und eine Liberale aus Israel mit den Kurden. Ein Drittel sind Kämpferinnen, organisiert im Frauenverband YPJ.

Im Krieg gegen den IS haben allein die syrischen Kurden schätzungsweise 2000 Männer und Frauen verloren. Darunter sind mindestens zwei Deutsche: Ivana Hoffmann, 19, aus Duisburg und Kevin Joachim, 21, aus Karlsruhe.

Wie viele andere sitzt Sven Müller im September 2014 vor dem Fernseher. Nachrichtensender übertragen von türkischem Gebiet aus live die Schlacht um Kobane. Der IS prahlt in seinen Videos zu der Zeit mit Vergewaltigungen, Kreuzigungen, Enthauptungen.

Er selbst, sagt Müller, habe erst wenige Jahre zuvor angefangen, sich für Politik zu interessieren, und bezeichnet sich nun als Marxist. Wie wenig Unterstützung die Kurden im Kampf gegen den IS erhalten, macht ihn wütend. „Man ist ja einiges an Ignoranz gewohnt, ich habe mich nach Kobane trotzdem gefragt: Wieso tut niemand etwas?“ Das erste Mal an diesem Vormittag hört sich Müller aufgewühlt an: „Wer da unten kämpft, hält für uns alle den Kopf hin.“ Er spendet Geld an die PYD. Das ist die Partei hinter den YPG-Milizen. Sie betreibt in einem Berliner Erdgeschoss ein winziges Auslandsbüro. Bald will Müller mehr tun.

Doch wieso unbedingt an die Front? Was sagen Eltern und Freunde? Und was nimmt er mit in den Krieg?

„Dort“, sagt Müller, „stehen sich Zivilisation und Barbarei gegenüber.“ Und dass er selbst die Zivilisation verteidigen wolle. Von langen Pausen unterbrochen erklärt Müller, wie er die Lage sieht: Der Westen stützt im Nahen Osten diverse Diktaturen, solange es passt. Wanken die Herrscher, rüsten die Regierungen in Berlin oder Washington neue Partner aus. Davon profitierten die Islamisten. „Eine Riesenheuchelei“, sagt er. „Als wäre der IS vom Himmel gefallen.“

Staatsschutz, Verfassungsschutz, türkische Botschaft
Müller wuchs in einer westdeutschen Kleinstadt auf, sein Vater ist Handwerker, seine Mutter Lehrerin. Er arbeitet in Berlin für einen Wohlfahrtsverband und lese viel, sei aber kein Intellektueller: „Ich muss nicht dauernd Hegel in der Hand haben.“ Sportlich ist Müller, bei der Bundeswehr war er aber nicht. „Ich denke, ich kann trotzdem helfen.“

Viel erzählt Müller nicht von sich. Er bittet, sein Äußeres nicht genau zu beschreiben, auch über seinen Freundeskreis schweigt er. „Ihren Text“, sagt er, „werden alle lesen: der Staatsschutz, der Verfassungsschutz, die türkische Botschaft.“ Müller sei bei einschlägigen Demos von der Polizei überprüft worden, sagt sein Anwalt, und als mutmaßlicher „Linksextremist“ registriert.

Rojava besteht aus drei kurdischen Kantonen. Wie in der autonomen Kurdenregion im angrenzenden Irak haben Frauen und Männer, Christen, Muslime und Säkulare gleiche Rechte. Im Nahen Osten ist das heute seltener denn je.

Obwohl ihnen schweres Kriegsgerät fehlt, sind die Kurden am entschlossensten gegen den IS vorgegangen. Sie haben Turkmenen, Armenier und Araber, Christen, Muslime und Jesiden vor dem IS geschützt. In der Region stehen sie westlichen Werten am nächsten. Das 30-Millionen-Volk gilt als größte Nation ohne eigenen Staat. Kurden fordern nicht nur in der Türkei, Syrien und Irak mehr Autonomie, sondern auch in Iran.

Nach der Schlacht um Kobane lernt er Kurdisch
Die YPG ist keine professionelle Armee. Die geschätzt 30 000 aktiven Kämpfer werden nur mit dem Nötigsten versorgt. „Ich habe mit Genossen gesprochen, die dort waren“, sagt Müller. „Ich weiß, dass es vor allem Brot gibt und die meisten Westler noch während des Trainings wieder gehen.“ Dass man jederzeit in seine Heimat zurückkehren könne, zeige aber, dass man nicht verheizt werde.

Die Kurden suchen keine Draufgänger. Freiwillige berichten, dass sie vor allem in der Logistik eingesetzt worden seien. „Fest steht“, sagt auch Müller, „ich will am Leben bleiben.“ Er schmunzelt erstmals milde und auch das nur für ein, zwei Sekunden. In Gedanken, so scheint es, robbt er schon durch den Staub.

Reisen in Kriege haben Tradition. In den 30ern schlossen sich linke Deutsche den Republikanern im Spanischen Bürgerkrieg an, in den 80ern den Guerillas in Lateinamerika. Inzwischen geht es vielen um individuelles Vorankommen. Im postheroischen Zeitalter wird Liberalität gepredigt - sie zu verteidigen, überlassen die meisten gern anderen.

Müller nicht. Will er ein Held sein?

Er weiß, so ein Einsatz, sollte man ihn überleben, ist sinnstiftend. „Aber es ist nicht so“, sagt Müller, „dass ich da hinwill, nur um sagen zu können: Krass, ich war dort.“ Er sagt allerdings auch, von der Reise verspreche er sich eine „persönliche Reifung“.

Nach dem Krieg dürfte das Stressige im Berliner Alltag an Dramatik verlieren. Laute Nachbarn, Ärger auf Arbeit, abweisende Club-Türsteher? Unerheblich, könnte man meinen, wenn man in Syrien gegen Massenmörder gekämpft hat.

Als es den Kurden Anfang 2015 gelingt, den IS aus Kobane zu vertreiben, reift in Müller der Gedanke, ob er nicht selbst nach Syrien reisen und mitkämpfen solle. Er lernt ein bisschen Kurmandschi, einen der kurdischen Dialekte, die alle mit dem Persischen verwandt sind, nicht mit dem Türkischen oder Arabischen. Als die Islamisten im Juni erneut Kobane angreifen, entschließt er sich, auszureisen.

„Mir war dann schnell klar, dass das sinnvoll ist, dass es mir das wert ist.“ Müller spricht wieder so, als könnte er sowohl ein naiver Altruist als auch ein abgeklärter Politaktivist sein.

Kurdenmiliz YPG bekennen sich PKK-Chef Abdullah Öcalan
Auf seine Reise nimmt Müller einige T-Shirts, Socken, Unterhosen mit. Dazu zwei Jacken, zwei Hosen, zwei Handys - eines mit deutschem Vertrag, eines mit türkischer Prepaid-Karte. Den Schlüssel seiner Wohnung hat eine Freundin, die weiß, wohin Müller will.

Seinen Eltern aber habe er gesagt, er helfe Flüchtlingen im Grenzgebiet - was weniger als die halbe Wahrheit ist. Mit seinem Chef beim Sozialverband, für den er arbeitet, habe er sich auf ein Sabbatsemester geeinigt. „Die denken“, sagt er, „es geht ans Meer.“ Das habe er auch vielen Freunden erzählt.

Wer ihm beim Kurdischlernen geholfen hat, will er nicht verraten. Schon gar nicht, wer ihm den Kontakt nach Diyarbakir vermittelt hat. Das hat Gründe. Erst im Juni stoppte die Polizei am Düsseldorfer Flughafen eine Frau. Sie erklärte, sie wolle nach Kobane, um beim Wiederaufbau zu helfen. Die Polizei erklärte, wegen „Gefahrenabwehr“ eine Reise nach Syrien verhindern zu müssen.

Die YPG bekennen sich zum demokratischen Konföderalismus. Danach sollen sich Kommunen selbst verwalten, ein Zentralstaat wird abgelehnt: Kurdistan wäre dem Konzept zufolge eine Allianz quasi-sozialistischer Gemeinden verschiedener Regionen im Nahen Osten. Das Konzept stammt von Abdullah Öcalan, der sich vom US-Philosophen Murray Bookchin inspirieren ließ.

Öcalan sitzt in türkischer Haft. Er hatte in der Türkei einst die Kurdische Arbeiterpartei, die PKK, gegründet. Die liefert sich seit 30 Jahren einen blutigen Kampf mit dem türkischen Staat und ist fast in ganz Europa verboten. Nicht nur für Müller ist es ein Problem, dass die syrische YPG als Schwestermiliz der PKK gilt. Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan verkündete sogar, Kurden und IS seien gleich gefährlich.

PKK ist verboten - und was ist mit YPG-Kämpfern?
Noch 2014 sah es so aus, als hätten sich Erdogan und Öcalan auf Frieden geeinigt. Für Anschläge in Deutschland hatte sich die PKK entschuldigt, sogar in der SPD forderten einige eine „Neubewertung“ des PKK-Verbots. Müller glaubt nicht daran: „Die Bundesregierung wird ihre Beziehungen zur Türkei nicht gefährden.“

Die USA bezeichneten die PKK kürzlich wieder als Terrororganisation, helfen aber der YPG. Schizophrene Realpolitik: Vom türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik starten US-Jets, um die Kurden zu unterstützen, und türkische F16, um Kurden zu bombardieren.

Weil die Lage in Syrien unübersichtlich ist, äußern sich deutsche Justizsprecher ungern dazu. „Wir brauchen einen konkreten Fall“, sagt ein Staatsanwalt. „Dann könnten wir sagen, ob und weswegen ermittelt wird.“ Verboten ist die YPG in Deutschland jedenfalls nicht.

Sönke Hilbrans ist Rechtsanwalt in Berlin und vertritt Mandanten, die für die PKK tätig gewesen sein sollen. Über Freiwillige, die in Syrien kämpfen, sagt er: „Die Konflikte im Nahen Osten folgen nicht den Regeln, die der Westen aufgestellt hat.“ So sei die PKK verboten, weil sie gegen Ankara kämpfe. Wer sich in Syrien der YPG anschlösse, mache sich also nicht automatisch strafbar, selbst wenn PKKler dabei seien.

Muss Müller nichts befürchten?

Ein Staatsanwalt sagt, er rate von einer solchen Reise ab, und verweist auf Paragraf 109h des Strafgesetzbuches: Das Anwerben zum Wehrdienst in einer „militärähnlichen Einrichtung“ ist verboten. Oder auf Paragraf 89a, Vorbereiten einer „staatsgefährdenden Gewalttat“: Was, fragt er, sollten YPG-Camps mit Blick auf den syrischen Gesamtstaat anderes sein? Dass dieser Staat nur auf dem Papier existiere und die Kurden ehrenhafte Ziele verfolgten, spiele zunächst keine Rolle.

Theoretisch droht ihm, sollte er in Syrien kämpfen und in Deutschland dafür verurteilt werden, eine Haftstrafe. Darüber reden möchte er nicht. Womöglich hat er eine Legende vorbereitet, falls Polizisten ihn befragen.

Wann er nach Deutschland zurückkommen will, sagt Sven Müller nicht.