Deutschlandfunk, 27.10.2015

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Türkische Kurdengebiete
Mörderischer Herbst in Südost-Anatolien

In den kurdischen Gebieten der Türkei ist die Stimmung vor der Parlamentswahl am Sonntag geprägt von Gewalt zwischen der Regierungsarmee und Kämpfern im Zeichen der PKK. Statt der einst angestrebten Aussöhnung erlebte die Region zuletzt zahlreiche Bluttaten. Eine Reportage aus der Stadt Cizre.
Von Martin Gerner

"Das Wasser haben sie uns abgedreht. Und den Strom. Wer seinen Kopf aus dem Haus steckt, auf den wird geschossen. Aber meine Tochter war keine Terroristin. Wie soll ein Kind ein Terrorist sein?"
Trauergesang einer kurdischen Mutter, die ihr Kind zu Grabe trägt. Es ist ein mörderischer Herbst in Südost-Anatolien. Hunderte sind bereits gestorben, kurdische Kämpfer, türkisches Militär, unschuldige Kinder. In Cizre am Tigris, einer 100.000-Einwohner Stadt in der südöstlichen Ecke der Türkei, ist die Ausgangssperre wieder aufgehoben. Auf der anderen Seite des Tigris liegt Syrien. Kurden auch dort, die sich im autonomen Norden Syriens, den sie Rojava nennen, mittlerweile selbst verwalten. Zur Sorge der türkischen Regierung, die fürchtet, dass durch zu viel kurdische Autonomie an ihren Grenzen die Türkei zerfallen könnte. Und die deshalb ohne Kompromisse vorgeht.
Am Gouverneurs-Gebäude mit türkischer Fahne bin ich mit einer jungen Kurdin verabredet, die direkt zur Sache kommt:
"23 Menschen sind hier in Cizre zuletzt getötet worden. Wir sterben hier. Sie töten uns. Aber keiner hört uns. Verstehst du das?"
Sie führt in ein Viertel aus kleinen Gassen. Meterhoch gestapelte Sandsäcke, Mauern mit Einschusslöchern, zersprungene Fenster, Spuren der Kämpfe:
"Das ist unser Haus. Vor drei Jahren gekauft. Aber die letzten 10 Tage war Krieg hier. Schauen Sie selbst."
"Wir wollen kurdische Schulen, Lehrer und Ärzte"
Ihren Namen will sie lieber nicht sagen. Die Angst vor Repressalien ist groß:
"Viele Türken mögen uns nicht. Ich meine die Machthaber. Sie wollen uns alle loswerden, uns töten. Wie die Nazis. Verstehst du, was ich meine?"
Wasser- und Stromleitungen sind zerstört. Die Schwierigkeiten fangen schon im Alltag an:
"Wir wollen kurdische Schulen, Lehrer und Ärzte. Das ist so wichtig. Wenn meine Mutter ins Krankenhaus geht, versteht sie die Ärzte dort nicht und umgekehrt. Das ist ein riesiges Problem."

"Die Türkei unterstützt den IS"
Ein paar Gassen weiter arbeitet Leyla Imret. Die junge Kurdin lebte eine Zeit in Deutschland, bevor sie in Cizre zur Bürgermeisterin gewählt wurde. Ihr Vater war ein PKK-Kämpfer, der 1991 hier starb, in Gefechten mit Soldaten.
"Es ist für mich sehr, sehr schwierig zu verstehen die ganze Situation, die hier zuletzt hier passiert ist. In diesen neun Tagen, die ich hier erlebt habe, dachte ich: Es war schlimmer als in den 90er-Jahren. Ich hätte nicht gedacht, dass die Kinder so was noch mal erleben müssen."

Die türkischen Behörden haben Leyla Imret inzwischen abgesetzt. Sie werfen ihr Anstachelung zum bewaffneten Aufstand und Terror-Propaganda vor. Sie selbst sieht sich als Opfer einer staatlichen Kampagne. Zu den Kämpfen in Cizre hegt sie einen schwerwiegenden Verdacht:
"Die Türkei unterstützt die ISIS. Er wird von der Grenze reingelassen. Als es hier neun Tage Angriffe gab, haben sie Allah-u-Akbar gerufen und angegriffen. Die haben arabisch gesprochen. Das zeigt schon an, dass die ISIS sind. Und heute erleben wird das in der Türkei. Die ganzen Bombardierungen zuletzt, Ankara - das ist alles nahe an ISIS. Aber gleichzeitig auch an die AKP gebunden. Und das sollte Europa sehen."
Der islamische Staat in einem Boot mit Instanzen des türkischen Staates?
Eine beängstigende Vorstellung zu einem Zeitpunkt, da die Regierung in Berlin den Draht zu Istanbul wieder intensiviert.
"Wenn der Islamische Staat hier auftaucht, werde ich gegen sie kämpfen. Entweder töten sie mich oder ich töte sie. Es geht um mein Leben. Das ist mein Land. Ich kann nirgendwo anders hin."
Auch eine Art autonome Selbstverwaltung hat sich in Cizre gebildet, um die Strom- und Wasserzufuhr wieder herzustellen. Mehmet Tunc ist ihr Vize-Präsident:
"Selbstverwaltung ist unsere Alternative gegen das System. Nicht jeder ist ein Türke. Dein Freund mag vom Balkan sein und du ein Armenier. Bei uns findet jeder seinen Platz. Vertreter aus 22 verschiedenen Organisationen stimmen bei uns in der Versammlung mit ab. Ein Fortschritt, wie ich finde."
Aber wie sieht ein Ende der Gewalt aus? Osman Kavala ist ein landesweit anerkannter Unternehmer und Aktivist für den Ausgleich zwischen Kurden und dem Westen der Türkei.
"Viele Türken im Westen des Landes - Istanbul, Ankara – wissen in Wirklichkeit wenig. Die meisten sind nie in den kurdischen Gebieten gewesen. Sie haben keine Informationen aus erster Hand. Es ist also wichtig, dass sie hier herkommen, selbst Erfahrungen sammeln und mit den Menschen reden."
Die Türkei steuert also auf eine geladene Wahl am 1. November zu. Was macht die pro-kurdische HDP, die im Juni in Cizre über 90 Prozent der Stimmen erhalten hat, und deren Gegner erwarten, dass sie sich von der Gewalt der PKK lossagt? Und was macht die Regierung Erdogan, von deren Friedensprozess für viele Kurden das Bild eines Polizeistaates geblieben ist? Und die Stimmen trauernder Mütter, die um ihre Kinder weinen.