Die Zeit, 27.10.2015

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Istanbuldan / Wahl
Die besten Freunde der Türkei

Eine Kolumne von Özlem Topçu

Bei der Neuwahl in der Türkei werden wieder Zehntausende die Auszählung kontrollieren. Ein Beweis für neues zivilgesellschaftliches Engagement – das mächtige Gegner hat.
27. Oktober 2015, 11:14 Uhr

Vergangenen Freitagabend im Standesamt des Istanbuler Bezirks Kadıköy auf der asiatischen Seite der Stadt konnte man beobachten, wie sich die türkische Zivilgesellschaft in ihrer ganzen Schönheit entfaltete. Draußen regnete es in Strömen, schon den ganzen Tag, wer weiß, wie viele Schirme der Wind an diesem Tag kaputt geweht hat (so wie meinen), der Verkehr war mal wieder kurz vorm Kollabieren, die Lira fiel, der Goldpreis stieg; viele sind von der politischen Situation im Land eine Woche vor der erneuten Parlamentswahl frustriert – und trotzdem war der Saal an diesem Abend voll, denn die Organisation Oy ve Ötesi (OveÖ, auf Deutsch etwa: Wahl – und darüber hinaus) gab an diesem Abend, so wie derzeit an sehr vielen Abenden und vielen Orten, nichts Geringeres als eine Schulung in Bürgerkunde.

Eine Lektion in Rechten und Pflichten, die man als Bürger der Türkei während einer Wahl hat.

Das Prinzip ist einfach: Im ganzen Land sollen nach dem Willen des Vereins Freiwillige in die Wahllokale gehen und den Wahlprozess von Anfang bis Ende beobachten: von der Öffnung der versiegelten Stimmzettel morgens um 7 Uhr bis zur Auszählung ab 17 Uhr. Sie werden mitzählen, mitprotokollieren und zuschauen, wie die offiziellen Auszählprotokolle unterschrieben und mit den Stimmzetteln zusammen an die jeweiligen Wahlausschüsse des Bezirks geschickt werden. Kurz gesagt: Die Freiwilligen von ÖveÖ zählen auch – und gleichen dann später ihre mit den offiziellen Ergebnissen ab.
An diesem Abend in Kadıköy versuchen die Macher von ÖveÖ, den Ehrenamtlichen im Saal genau das zu vermitteln: Das Thema ist nicht Schummelei und Betrug, sondern Prävention und Vertrauen: "Wenn das Vertrauen erst einmal weg ist, wird es sehr schwer, es wiederzuerlangen", sagt Mitbegründer und Sprecher Sercan Çelebi. Das ist wohl auch der Grund dafür, dass es an diesem Abend nur um Technisches geht. Die Macher erklären Schritt für Schritt, was die Wahlbeobachter der Verfassung nach dürfen, wie sie sich verhalten müssen und worauf sie achten sollen; die ÖveÖ-Leute warnen vor Panikmache, vor zu schnellen Rufen von Wahlbetrug, sie bitten darum, dass die Beobachter jederzeit kühlen Kopf bewahren.

Der Verein macht sich Artikel 25 des türkischen Wahlgesetzes zunutze, der lautet: "Alle politischen Parteien oder unabhängigen Kandidaten können einen Beobachter benennen, der die Handlungen an der Wahlurne verfolgt." Dafür erhalten die Wahlbeobachter von ÖveÖ Beobachterausweise von den meisten Parteien; die kemalistische CHP vergibt welche, die prokurdische HDP, die linksnationalistische Vatan-Partei etwa und in einigen Provinzen wohl auch die islamisch-nationalistische Partei der Großen Einheit (BBP). Man hört an diesem Abend im Standesamt keine einzige politische Äußerung für Partei X oder gegen Partei Y. Darum geht es dem Verein auch nicht, und das ist das Besondere an ihm: Es ist nicht wichtig, wer die Wahl gewinnt, sondern dass jeder Bürger, in jedem Winkel des Landes, zu seinem demokratischen Recht kommt. Nämlich dass seine Stimme korrekt gezählt wird.

In der Türkei halten sich ja viele Menschen für Patrioten. Aber hier sind wahre Patrioten am Werk. Viele Intellektuelle, Liberale, Künstler und Wissenschaftler unterstützen sie dabei.

ÖveÖ repräsentiert eine neue Generation von zivilgesellschaftlicher Organisation: unparteiisch, unideologisch, unhierarchisch (wobei ich das anzweifle, sonst würde das ganze nicht so reibungslos ablaufen), demokratisch, und auf den Bürger konzentriert. Die Begründer, eine Gruppe von Freunden, sind allesamt junge, gut ausgebildete, smarte Leute; Sercan Çelebi etwa hat in den USA studiert und mehrere Jahre in der Unternehmensberatung McKinsey gearbeitet, aber auch seinen Wehrdienst abgeleistet. Diese Leute hier sind keine Staatskritiker per se und auch keine ausgesprochenen Gegner der regierenden AKP von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Keiner von ihnen hat etwas mit Parteipolitik zu tun, wie Çelebi im Gespräch betont. Ganz im Gegenteil, sagt er, es gebe in der Türkei gar keine Partei, in der er Mitglied sein wollte.
Die Idee zu ÖveÖ kam den Freunden nach den Gezi-Protesten, wo sie mitdemonstriert haben. Gezi hat neben vielem auch gezeigt, was den Bürgern fehlt: Vertrauen in die Politik und Teilhabe. Das wird an diesem verregneten Freitagabend nach einer kleinen Umfrage bei den Besuchern im Saal deutlich. Auf die Frage, was ÖveÖ für sie bedeutet, sagen die meisten: Vertrauen. Besonders scheint sie bei Wahlen zu fehlen, wie eine Studie herausfand, die zur regulären Parlamentswahl am 7. Juni veröffentlicht wurde.

Aufgabe der Zivilgesellschaft ist Kontrolle der Gewählten und Beitrag zur Stabilität

Dieses Vertrauen wollen Çelebi und die anderen wiederherstellen, indem sie Teilhabe in Form von Wahlbeobachtung ermöglichen. Und indem sie nicht über Politik sprechen, sondern über Bürgerrechte. "Neutralität, Unabhängigkeit, Teilhabe" seien ihre wichtigsten Quellen, wiederholt Çelebi wie ein Mantra. Und den Bürger scheint das zu überzeugen, der dürfte nämlich die harten politischen Auseinandersetzungen leid sein (die schmerzhaften militärischen ebenfalls, geschweige denn die durchgeführten und angedrohten Terroranschläge). Seitdem die Wahl-Aktivisten das erste Mal zu den Kommunalwahlen 2014 in Erscheinung traten, wuchs die Zahl der Freiwilligen stetig. Sie sehen es auch als ihr Verdienst an, dass es nach der letzten Parlamentswahl keine Debatte um Wahlfälschung oder -betrug wie in der Vergangenheit gab. Nach eigenen Angaben hatte der Verein zehn Tage vor der Wahl am 7. Juni 30.000 Freiwillige – jetzt, etwa zehn Tage vor der Neuwahl, 54.000. Die Macher von ÖveÖ gehen davon aus, dass sie in dieser Woche noch die Marke von 70.000 knacken werden. Ein besonderes Augenmerk liegt auf den Orten, wo die Wahl knapp ausgehen könnte. Dort braucht es besonders viel Vertrauen.

Für westliche oder deutsche Ohren mag das alles selbstverständlich klingen, aber in der Türkei ist es das noch nicht. Die Zivilgesellschaft hat es hier nicht leicht, auch wenn sie in vielen Orten sehr lebendig ist. Die ureigenste Aufgabe der Zivilgesellschaft ist Kontrolle der Gewählten; sie hat eine Checks-and-Balances-Funktion, die direkt vom Bürger ausgeht, und ist damit ein unverzichtbarer Teil jeder Demokratie. Sie wirkt stabilisierend auf die politische Atmosphäre, weil der Bürger jenseits von Wahlen gegenüber den Machthabern seine Interessen formulieren kann. Im Westen fördern Staaten und Regierungen die Zivilgesellschaft und ihre Organisationen oft, weil sie um die stabilisierende und demokratisierende Wirkung wissen, auch wenn es dem Staat nicht immer gefallen mag, was die Zivilgesellschaft macht.
In vielen noch nicht etablierten Demokratien ist das nicht so. Auch in der Türkei klagen viele Organisationen darüber, dass ihre Arbeit ver- und behindert wird, oder Schlimmeres; dass sie eigentlich häufig den Kontakt zu staatlichen Stellen suchen, dieser ihnen aber nicht gewährt wird. Es war eigentlich die AKP-Regierung, die den gesetzlichen Status von zivilgesellschaftlichen Organisationen verbessern wollte. Viele sprechen davon, dass es Mitte der 2000er ein kurzes Aufatmen gab, dass sich die Hoffnungen aber nicht verwirklichten. Noch Anfang dieses Jahres sprach Premierminister Ahmet Davutoğlu davon, dass "wir die Schmerzen der Samstagsmütter begraben werden" – die Samstagsmütter und -menschen sind eine echte Graswurzelbewegung und erinnern seit Mitte der 1990er Jahren Woche um Woche vor dem Galatasaray-Gymnasium mitten in Istanbul an ihre verschwundenen Söhne, Väter und Angehörigen. Auch wenn den Worten noch nicht viel Aufklärung gefolgt ist, so waren die Worte von Davutoğlu eine Art Anerkennung dieser zivilgesellschaftlichen Bewegung vor der gesamten Republik. Viele glauben, dass dies nur Show ist.
Denn gleichzeitig werden Organisationen wie diese hart angegriffen. Dieser Tage trifft es Öy ve ötesi. Regierungsnahe Medien fahren gerade eine regelrechte Kampagne gegen sie und werfen der Organisation vor, sie sei ein Projekt des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen, der einst Verbündeter der AKP und von Staatspräsident Tayyip Erdoğan war, jetzt als einer seiner schlimmsten Feinde betrachtet wird. Der Verein würde illegale Wahlbeobachtung betreiben und versuchen, den Eindruck zu erwecken, bei der Wahl würde geschummelt. Natürlich gehe alles gegen die AKP, und überhaupt, das Ausland würde ÖveÖ finanzieren. Die Vorwürfe sind atemberaubend, werden aber natürlich mit keinem einzigen Beleg versehen.
Angriffe werden nicht nur über regierungsnahe Medien gestartet, anscheinend gibt es auch den absurden Versuch, mit einer sehr ähnlich klingenden "Organisation" namens "Oy ve hilesi" (Wahl und Betrug) die echten Ehrenamtlichen zu sabotieren und Anhänger oder Interessierte zu verwirren. Im Gegensatz zum Original allerdings ist bei Oy ve hilesi völlig intransparent, wer die Macher sind und wie man als Bürger teilhaben kann (LINK: http://jiyan.org/2015/10/25/oy-ve-hilesi-kimin-hilesi/). Sehr merkwürdig ist auch, dass diese zweite Organisation innerhalb von wenigen Stunden mehr als 42000 Follower auf Twitter hatte, wie es in dem Artikel heißt – nach nur drei Tweets.

Die ganze Aktion wird der echten zivilgesellschaftlichen Initiative nicht schaden, vielleicht aber den einen oder anderen doch davon abhalten, sich als Bürger zu engagieren.

Diese Angriffe beschäftigen die Menschen. Eine der ersten Fragen an die Macher von ÖveÖ am Freitagabend in Kadıköy betrifft diese Vorwürfe. Man hält sich nicht lange damit auf. Sercan Çelebi sagt nur, dass das Ganze keine Grundlage habe und die Anwälte, die es auch in der Gruppe gibt, sich der Sache annähmen. Dann macht er weiter.