Die Welt, 28.10.2015 http://www.welt.de/politik/ausland/article148115877/Erdogan-laesst-Sender-bei-laufendem-Programm-stuermen.html Erdogan lässt Sender bei laufendem Programm stürmen Von Deniz Yücel , Istanbul Es waren dramatische Szenen, die am Mittwochmorgen live im Fernsehsender Bugün zu sehen waren: Während draußen die Polizei das Gebäude abgeriegelt hatte, berichteten Reporter live vom Geschehen vor ihrer Tür, Verantwortliche kommentierten die Lage, über Telefon wurden Journalisten von Konkurrenzmedien, Vertreter aller Oppositionsparteien und der Zivilgesellschaft zugeschaltet. Einige, die es morgens noch in den Sender geschafft hatten, sprachen live aus dem Studio. Sogar ein ehemaliger Minister der türkischen Regierungspartei AKP, Ertugrul Günay, erklärte live am Telefon seine Solidarität und sprach von einem "zivilen Putsch". Zwischendurch verabschiedeten sich die Mitarbeiter von ihren Zuschauern. Und immer wieder fiel ein Satz: "Jede Minute könnte unsere letzte sein." Europas Deal mit Erdogan – Zugeständnisse aus der Not Der Konzern mit rund 5000 Mitarbeitern aber steht im Ruf, der Bewegung des gemäßigten islamischen Predigers Fethullah Gülen nahezustehen. Die Gülen-Bewegung war jahrelang ein enger Verbündeter der AKP. Seit dem Zerwürfnis im Jahr 2013 ist sie ihr Intimfeind – und wird vom türkischen Staat inzwischen als Terrororganisation gesehen. So lautet auch die Begründung für die Zwangsverwaltung, dass der Konzern Gelder an die "Fethullahistische Terrororganisation" (in Gerichtsbeschlüssen inzwischen allen Ernstes als "FETÖ" abgekürzt) weiterleite. Allerdings ist Koza-Ipek auch in der Baubranche, im Tourismus und mit der Gewinnung von Bodenschätzen beschäftigt; die Medientochter dürfte, wenn überhaupt, nur einen geringeren Teil zu den Konzerngewinnen beisteuern. Die Konzernführung bestreitet diese Vorwürfe und verweist darauf, dass alle Bilanzen offenlägen. Bei einer Razzia in den Konzernräumen Anfang September hatte die AKP-Regierung noch behauptet, dass es um den Konzern gehe, nicht um Zeitungen und Sender. Journalisten sprechen von Putsch "Hier wird die Verfassung gebrochen", sagte Metin Yilmaz, Redaktionsleiter und stellvertretende Chefredakteur von Bugün, am Telefon der "Welt". Bislang sei nur der Zwangsverwalter bestellt, aber nicht die gesetzlich vorgeschriebene Zwangsverwaltung. Und die sei nur dazu befugt, die geschäftlichen Dinge des Konzerns bis zu einem rechtskräftigen Gerichtsurteil treuhänderisch zu verwalten, aber nicht, in den Sende- und Redaktionsbetrieb einzugreifen. "Das ist ein Putsch gegen die Verfassung, gegen das Recht auf Eigentum und die Pressefreiheit", sagte Yilmaz. Und er ist nicht der Einzige, der das so sieht: "Der Regierung geht es einzig darum, oppositionelle Sender und Zeitungen unter ihre Kontrolle zu bringen", sagte der Vorsitzende der türkischen Anwaltskammer, Metin Fevziyoglu, am Telefon bei Bugün TV. Die AKP sichert sich einen Großteil der Sendezeit Bürger geben der Regierung eine Mitschuld Für zwölf Sender inklusive TRT sah die Bilanz wie folgt aus: Erdogan 138 und die AKP 238 Stunden, die CHP 36, die MHP 21 und die HDP sechs Stunden. Zusammengerechnet also 376 Stunden für die Regierung, 63 für die Opposition. Die Sender Bugün und Kanaltürk gehörten nicht zu diesen hier ausgewerteten Sendern. Das dürfte sich bald ändern. Am Ende sollten die Proteste nichts genutzt haben. Um 16.45 Uhr Ortszeit wurde der Netzbetrieb der beiden Sender eingestellt. Zuvor hatten die Mitarbeiter fast 12 Stunden lang der Bedrängnis der Polizei getrotzt und weiter gesendet. Abgeschaltet wurde der Betrieb von Technikern eines AKP-nahen Senders. Draußen vor der Tür erzählte danach Tarik Toros, der Chefredakteur von Bugün TV, wie ihm am Ende Polizisten das Mikrofon aus der Hand rissen. Die Zeitungen "Bugün" und "Millet" sollen am Donnerstag noch erscheinen. Es dürften die letzten Ausgaben sein.
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