Die Zeit, 28.10.2015

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Istanbuldan / Türkei
Sätze, die nicht vergessen werden

Eine Kolumne von Özlem Topçu

Regierungskritische Journalisten in der Türkei leben gefährlich, die Medienhäuser bekommen es mit dem Staat zu tun. Manchmal reichen wenige Worte.

Ja, ich weiß, eigentlich könnte man eine eigene Kolumne darüber schreiben, wie es unseren Kollegen in der Türkei geht. Politischer Druck, Zensur und Selbstzensur, manchmal Festnahmen und Verhaftungen; den Rest übernehmen die Arbeitgeber, die Redakteure und Reporter erbärmlich bezahlen und ohne Sozialversicherung arbeiten lassen. Egal wie gut sie sind. Die wenigen Stars haben ihren eigenen Chauffeur und Möglichkeiten zum Selbstmarketing; aber für viele bedeutet der Beruf Prekariat.

Oft bringt er auch Prekariat infolge einer regierungskritischen Berichterstattung. Kürzlich schrieb die ehemalige Milliyet-Journalistin Mehveş Evin an dieser Stelle darüber, warum sie gefeuert wurde, wie unzählige andere auch, und dass sie froh ist, wenigstens eine Eigentumswohnung zu haben, von deren Vermietung sie leben kann. Wie bitter, dass eine preisgekrönte Journalistin sich an so etwas klammern muss. Der neueste prominente Weggang: Bülent Mumay, vielleicht der erfolgreichste Online-Journalist des Landes. Dazu gleich mehr.

In der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen nimmt das Land derzeit Platz 149 von 180 ein – zwischen Mexiko und der Demokratischen Republik Kongo. Seit Dienstagabend steht der Medienkonzern Koza Ipek, der mehrere Fernseh- und Radiokanäle (Kanaltürk, Bugün TV) und Zeitungen (Millet, Bugün) unterhält, unter der Aufsicht eines Zwangsverwalters. Die Ausstrahlung wurde eingestellt, schwarzer Bildschirm. Es wird ermittelt, der Vorwurf: Unterstützung einer "Terrororganisation", nämlich der Bewegung des in den USA lebenden Predigers Fetullah Gülen, der einst politischer Weggefährte von Staatspräsident Tayyip Erdoğan war, bis sie sich vor einiger Zeit überwarfen; jetzt sind sie verfeindet. Der Konzern, die türkische Anwaltskammer und Oppositionsparteien bezweifeln die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme. Während diese Zeilen geschrieben werden, stehen Hunderte Anhänger vor dem Gebäude des Senders und demonstrieren für Pressefreiheit und Demokratie. Sie sagen, dass die Türkei immer mehr zu einem autoritären System werde.

Einfacher wird die Sache nicht gerade, wenn man bedenkt, dass viele Medien und Medienmacher in der Türkei ihre Glaubwürdigkeit verloren haben – dazu gehören eben auch diese sogenannten Gülen-Medien, die schwiegen, als sie noch Verbündete der Macht waren und Kollegen kritisch über sie schrieben. Sie haben sich mit ihrer jüngsten Vergangenheit kaum selbstkritisch auseinandergesetzt, begnügen sich stattdessen nun damit, sich als die wahren Gegner der AKP-Regierung und Verteidiger der bürgerlichen Freiheitsrechte zu präsentieren.
Der bekannte Investigativ-Journalist Ahmet Şık, wahrscheinlich prominentestes Opfer der Gülen-Bewegung und ihrer Medien (er schrieb ein kritisches Buch über sie und kam daraufhin etwa ein Jahr ins Gefängnis), twitterte heute kommentarlos: "Schweig nicht. Wenn du schweigst, bist du der nächste in der Reihe." Wer verstehen will, versteht das wohl.

Apropos Glaubwürdigkeit: Auch die säkulare, republikanische Presse scheint da ein Problem zu haben. Vor Kurzem geriet die auch in Deutschland bekannte Hürriyet ziemlich unter Druck. Mittlerweile gilt sie als regierungskritisch (was sie unter säkularen Regierungen in der Vergangenheit nicht unbedingt war). Ein wild gewordener Mob (unter ihnen Abdurrahim Boynukalın, ein junger AKP-Abgeordneter, Vorsitzender des Jugendverbandes der Partei; auf einem später aufgetauchten Video sagt er: "Unser Fehler war es, dass wir sie nicht früher verprügelt haben.") griff Anfang September das Gebäude der Zeitung in Istanbul an, zweimal hintereinander. Der Chefredakteur Sedat Ergin kam nach dem zweiten Angriff direkt vom Tatort ins Studio von CNN Türk und berichtete live von den Geschehnissen, er war sichtlich erschüttert und sprach viel von Pressefreiheit und dass man sich nicht beugen werde. In den Tagen danach versammelte sich die gesamte Führungsmannschaft des Konzerns, ebenfalls wurden Reden über die Pressefreiheit gehalten.

"Könnten dich wie eine Fliege zerquetschen"

Einige Wochen später bedrohte ein Autor der regierungsnahen Zeitung Star einen der bekanntesten Journalisten des Landes und Hürriyet-Kolumnisten Ahmet Hakan in einem Artikel mit den Worten: "Wenn wir wollten, könnten wir dich wie eine Fliege zerquetschen." Später versuchten das auch einige. Hakan wurde vor seinem Haus von vier Männern angegriffen und verprügelt (mittlerweile hat er sich anscheinend zumindest körperlich wieder erholt). Wieder hörte man viel über Pressefreiheit, und dass man weitermachen werde. Es gab viel Solidarität aus dem In- und Ausland.
Und nun hat eben diese Zeitung den führenden Online-Journalisten seiner Aufgaben enthoben, ganz still und heimlich. Man kann wohl sagen, dass Bülent Mumay, der als "Digital Media Group Coordinator" von Hürriyet die Internetseite zu dem gemacht hat, was sie heute ist, mit 3,5 Millionen Besuchern täglich hat sie die höchste Reichweite unter den Nachrichtenseiten. Nur leider geriet Mumay anscheinend in den Fokus der Regierung. Laut einem Bericht der Cumhuriyet soll sich Staatspräsident Tayyip Erdoğan einmal persönlich über ihn beschwert haben. Dann folgten zwei weitere bemerkenswerte Ereignisse, die in der medialen Gerüchteküche gerade als mögliche Gründe für die Entscheidung von Hürriyet kursieren: Als die ägyptische Putschregierung den ehemaligen Präsidenten Mohammed Mursi im Mai dieses Jahres zum Tode verurteilte, machte die Hürriyet mit der Schlagzeile auf: "Die Welt unter Schock! Ein mit 52 Prozent der Stimmen gewählter Präsident bekommt Todesurteil." Der Präsident und die Regierung sahen das als Anspielung auf Erdoğan an und griffen die Zeitung öffentlich an.

Bauernopfer im Kampf mit der Macht?

Die Hürriyet schrieb darauf einen offenen Brief an den Staatspräsidenten, verteidigte sich und stritt den Vorwurf ab. Dann, Anfang September, gab Erdoğan ein Live-Interview, die PKK hatte gerade bei einem Angriff in Dağlıca (Provinz Hakkari) 16 Soldaten getötet, die Kämpfe waren nach der ersten Parlamentswahl dieses Jahres am 7. Juni wieder aufgeflammt. Erdoğan informierte in der Sendung über die Bergungsarbeiten und sprach der Bevölkerung sein Beileid aus. Anschließend fragte ihn der Interviewer (ein bekannter regierungsnaher Journalist), was der Staatspräsident mit seiner scharf kritisierten Äußerung über das Ziel von "400 Abgeordneten" während des Wahlkampfes gemeint habe. 400 Abgeordnete bedeuten eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament, sie wären nötig gewesen, um das von der AKP und Erdoğan gewünschte Präsidialsystem per Verfassungsänderung einzuführen. Aber die Partei blieb weit darunter. "Hätte eine Partei die 400 erreicht, hätten wir heute eine andere Situation", sagte der Präsident, nachdem er generell über den jüngsten Zustand des Landes gesprochen hatte.

Nun machte die Hürriyet (und andere oppositionelle Medien) daraus eine "Dağlıca-Äußerung des Präsidenten" – nach dem Motto: Hätten wir 400 Abgeordnete bekommen, hätten wir heute keinen Terror. Man kann darüber streiten, ob das noch als "journalistische Überspitzung" oder ethisch sauber gelten kann. Jedenfalls wurde nach eigener Angabe die Schlagzeile nach zehn Minuten geändert. Der Bericht in eigener Sache problematisiert den vielleicht zu schnellen Reflex des Online-Journalismus, hinterfragt aber auch gleichzeitig die Äußerung des Präsidenten: Was wäre denn heute anders, wenn eine Partei (also die AKP) 400 Abgeordnete bekommen hätte? Am selben Abend kam es zu dem ersten Angriff auf das Gebäude der Redaktion.

So weit die jüngste Vorgeschichte der Beziehung zwischen der Hürriyet und der AKP-Regierung. Sie geht noch weiter und wäre eigentlich Romanstoff. Legendär ist der Hürriyet-Satz, wonach Tayyip Erdoğan "nicht einmal mehr Dorfvorsteher" werden könne, nachdem er als Istanbuler Bürgermeister 1998 nach einer Rede zu einer mehrmonatigen Haftstrafe verurteilt wurde. Dieser und andere Sätze wurden sicher nicht vergessen.

Es gäbe viel zu kritisieren an der türkischen Presse, nicht nur an jenen, die nicht viel Interesse an Demokratie zeigen, sondern eher an Gewalt, siehe zerquetschte Fliege. Auch die regierungskritischen Medien könnten sich manchmal mehr schämen. Aber zur Pressefreiheit, die die Hürriyet in letzter Zeit sehr oft (zu Recht) betont, gehört eben auch, Fehler machen zu können und zu seinen Redakteuren und Mitarbeitern zu stehen. Fehler bleiben heute weniger unentdeckt durch die sozialen Medien. Das ist prinzipiell gut. Die Hürriyet ist in diesem Fall durch den kritischen Bericht über sich selbst gut mit der Situation umgegangen.

Deshalb bleibt die Frage, warum Bülent Mumay gehen musste. Ist er ein Bauernopfer dieses Kampfes zwischen Macht und Medium? Der Konzern sagt auf Anfrage, dass Mumay nicht der einzige gewesen sei, der nun eine andere Aufgabe übernehme. Es gebe eine "Neustrukturierung" und von einer politischen Entscheidung könne nicht die Rede sein.