Die Zeit, 28.10.2015

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Flüchtlingspolitik
Nein, die Türkei ist nicht sicher

Deutschland und die EU möchten, dass Erdoğan Flüchtlinge im Land hält. Dabei werden sie dort nicht sicher geschützt; die Menschenrechtslage ist dramatisch.

Ein Gastbeitrag von Emma Sinclair-Webb, Istanbul
28. Oktober 2015, 16:45 Uhr

Derzeit verbiegt sich die EU für ein Abkommen mit der Türkei, das verhindern soll, dass weiterhin syrische und andere Flüchtlinge in großer Zahl von der türkischen Küste ablegen oder die westliche Landesgrenze nach Europa überqueren. Es lohnt sich, genau darüber nachzudenken, was dabei auf dem Spiel steht.

Schon möglich, dass so ein Abkommen der EU und Präsident Recep Tayyip Erdoğan kurzfristig Vorteile verschaffen würde. Allerdings ginge es zulasten der Bemühungen der EU, die langfristigen Menschenrechtsprobleme der Türkei zu bearbeiten, die auch die regionale Stabilität gefährden. Und es birgt die Gefahr, dass noch mehr Asylsuchende in der Türkei stranden, wo es kein funktionierendes Schutzsystem gibt. Außerdem setzt die EU die Reste ihres Einflusses auf Ankara in einem Moment aufs Spiel, in dem die Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit im Land massiv gefährdet sind. In den zwölf Jahren, in denen ich mich in dem Land mit diesem Thema beschäftige, war die Lage nie brisanter.

Anders als das geplante EU-Abkommen behauptet, ist die Türkei weit davon entfernt, ein sicheres Land für geflüchtete Menschen zu sein. Vielmehr wird sie auch für ihr eigenen Bürger zunehmend unsicher – nicht zuletzt deshalb, weil sich die politische Führung für eine repressive Einschüchterungskampagne gegen all ihre Konkurrenten und Kritiker entschieden hat.

Momentan beherbergt die Türkei mehr als zwei Millionen aus Syrien geflüchtete Menschen in einem "temporären Schutzsystem". Viele andere, etwa Iraker und Afghanen, haben nicht einmal diesen Status, obwohl sie ebenfalls aus Ländern stammen, aus denen viele Menschen flüchten müssen.

Zweifellos würde die Türkei von finanzieller Unterstützung der EU profitieren, um die Flüchtlinge zu versorgen. Dann könnten vielleicht auch die geflüchteten Kinder in türkische Schulen gehen, was 80 Prozent von ihnen bislang verwehrt ist. Aber unabhängig von finanziellen Anreizen bleibt die Tatsache, dass das türkische Asylsystem nicht funktioniert.

Als die Türkei 1962 der UN-Flüchtlingskonvention beitrat, versäumte es die Regierung, die ursprünglich aus dem Zweiten Weltkrieg stammende, räumliche Einschränkung aufzuheben, durch die der Vertrag nur für europäische Flüchtlinge gilt. Deshalb haben Menschen, die über die südlichen oder östlichen Grenzen ins Land kommen, etwa Syrer, Iraker und Afghanen, keinen Anspruch auf Asyl oder auf einen regulären Flüchtlingsstatus. Ihre Verfahren können in der Türkei nur mit Blick auf eine zukünftige Umsiedlung in Drittstaaten bearbeitet werden, oder sie erhalten wie die Menschen aus Syrien temporären Schutz aus politischem Ermessen.

Obwohl die Türkei völkerrechtlich dazu verpflichtet ist, verfügt sie nicht über Gesetze, die nicht-europäischen Flüchtlingen alle Rechte garantieren oder gewährleisten, dass sie nicht in Länder abgeschoben werden, in denen ihnen Gefahr droht.

Dreh- und Angelpunkt des EU-Aktionsplans ist, Asylsuchende und Migranten in der Türkei zu halten. Ein Blick auf eine Landkarte, auf die lange, türkische Küste und auf die nahe gelegenen griechischen Inseln verdeutlicht, wie unwahrscheinlich es ist, dass die Türkei die Ausreisepläne aller Menschen vereiteln kann. Einfacher zu erreichen wäre, die Ost- und Südgrenze für neue Flüchtlinge zu schließen. Auch das ist im Entwurf des Aktionsplans vorgesehen und soll Menschen davon abhalten, überhaupt in die Türkei einzureisen. Wahrscheinlicher ist aber, dass viele in Lebensgefahr geraten.

Um alle Menschen in der Türkei zu halten, wären Maßnahmen notwendig, die weit über den Kampf gegen Schlepperbanden hinaus gehen. Ein drakonisches Grenzregime müsste etabliert werden. Die Polizei müsste die ganze Küstenlinie kontrollieren und vorsorglich massenhaft Personen inhaftieren, die den Anschein erwecken, sie wollten möglicherweise das Land verlassen.

Das sind düstere Aussichten für alle, die ein bisschen Bescheid wissen über die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen der türkischen Polizei. Über diese schwerwiegenden Probleme schweigt die EU jedoch lieber. Umso wichtiger ist es, dass wir gerade jetzt auf sie aufmerksam werden.

Vergiftet Europa die Zukunft der Türkei?

Nach dem unklaren Wahlergebnis Anfang des Jahres und vor den Neuwahlen am Sonntag versucht die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) von Präsident Erdoğan, ihre Macht mit allen Mitteln zu sichern. Sie geht vehement gegen die Medienfreiheit vor, distanziert sich kaum von den gewaltsamen Angriffen auf die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP), auf die Doğan-Mediengruppe und einen ihrer bekanntesten Journalisten, und sie missbraucht die Justiz, um ihre Gegner zu verfolgen und einzusperren.

Im Sommer ließ die Regierung bewusst den bewaffneten Konflikt mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK wieder aufflammen. Damit gab sie einen Friedensprozess auf, den viele Menschen in der Türkei nach Jahrzehnten tödlicher Kämpfe begrüßt hatten. Da die Feindseligkeiten in Städten ausgetragen werden, zahlt die Zivilbevölkerung den Preis. In weniger als drei Monaten wurden Hunderte Menschen auf beiden Seiten getötet. Dazu kommt der Bombenanschlag in Ankara, dem mehr als 100 Menschen zum Opfer fielen. Er erinnert daran, wie nah der syrische Krieg ist und wie wenig der Regierung gelingt, der Bedrohung durch den IS Herr zu werden.

Es ist skandalös und kurzsichtig, dass die EU die Probleme in der Türkei ignoriert, um ein Abkommen zu beschließen, das geflüchtete Menschen von Europa fern halten soll. Die Europäische Kommission lockt nicht nur mit Visa-Erleichterungen für türkische Staatsbürger, sondern hat auch vorgeschlagen, die Türkei zu einem sicheren Herkunftsstaat zu erklären. Dann können die Asylgesuche von Türken, zum Beispiel von Journalisten und Kurden, die vor politischer Verfolgung in die EU fliehen, standardmäßig als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden. Dabei lag die Schutzquote für Asylsuchende aus der Türkei im Jahr 2014 bei 23 Prozent. Im gleichen Jahr stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 94 Verstöße des Landes fest.

Gerade wurde die Veröffentlichung des jährlichen Berichts der Europäischen Kommission über den Fortschritt der Türkei auf dem Weg zum EU-Beitritt auf einen Zeitpunkt nach den Neuwahlen verschoben. Auch das deutet darauf hin, dass die EU bereit ist, Menschenrechtsverletzungen unter den Teppich zu kehren, solange die Türkei sie dabei unterstützt, Asylsuchende und Migranten von der Einreise abzuhalten. Wenn die EU geflüchtete Menschen dazu zwingt, in einem Land zu bleiben, in dem sie nicht sicher sind, und den Zugang zu Asyl für türkische Staatsbürger dann einschränkt, wenn sie ihn am dringendsten brauchen, dann riskiert sie, die Türkei weiter zu destabilisieren. Das wäre Gift für die Zukunft der Türkei.

Aus dem Englischen übersetzt von Daniela Turß