junge Welt, 28.10.2015

https://www.jungewelt.de/2015/10-28/045.php

Guerilla unter Beschuss
Türkischer Präsident will mit Attacken kurdische Befreiungsbewegung provozieren

Von Nick Brauns

Die Volksverteidigungseinheiten YPG im nordsyrischen Selbstverteidigungsgebiet Rojava beklagen fortgesetzten Beschuss durch die türkische Armee. Seit Samstag seien Stellungen um die an der Grenze gelegenen Städte Tal Abjad und Kobani mehrfach von der türkischen Seite der Grenze aus mit automatischen Waffen beschossen worden, meldete die Pressestelle der YPG am Montag abend. Verluste habe es dabei keine gegeben. In der Umgebung der Stadt Kobani sei es zudem zu Angriffen des »Islamischen Staates« (IS) gekommen.

Am Sonntag hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in einer Rede in Ankara die vor wenigen Tagen erfolgte Ausrufung der Selbstverwaltung in Tal Abjad kritisiert. Die Stadt war im Juni von einer Allianz aus YPG und arabischen Milizen vom IS befreit worden. »Die Türkei wird alle notwendigen Schritte einleiten, um diese Bedrohung zu überwinden«, verkündete Erdogan. Da bislang jedoch keine reale Bedrohung des türkischen Staatsgebietes von den YPG ausging, zielt der Beschuss offenbar darauf, diese zu bewaffneten Reaktionen zu provozieren, um ein grenzübergreifendes Eingreifen der Armee zu rechtfertigen.

Trotz eines einseitigen, von der Guerilla der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ausgerufenen Waffenstillstands setzt die türkische Armee ihre Angriffe fort. Rückzugsgebiete der Guerilla im türkisch-irakisch-iranischen Grenzgebiet seien durch Kampfhubschrauber und Panzer beschossen worden, meldete das Hauptquartier der Guerilla zu Wochenbeginn. Die PKK habe von ihrem Recht auf Selbstverteidigung und Vergeltung Gebrauch gemacht. Bei mehreren Gefechten und einem Angriff auf einen Konvoi seien seit dem 17. Oktober in der Provinz Hakkari fast 30 Soldaten getötet worden. Die eigenen Verluste gab die PKK mit zwei Kämpfern an.

Die Staatsanwaltschaft in Istanbul-Bakirköy hat unterdessen Anklage gegen den Vorsitzenden der Anwaltskammer von Diyarbakir, Tahir Elci, wegen »Propaganda für eine terroristische Organisation« erhoben und eine Haftstrafe von siebeneinhalb Jahren gefordert. Elci hatte während einer Podiumsdiskussion im Sender CNN Türk am 14. Oktober erklärt, die PKK sei aus seiner Sicht keine terroristische Organisation, sondern eine bewaffnete politische Bewegung mit starker Unterstützung unter der örtlichen Bevölkerung. Wegen dieser Äußerung war Elci in der vergangenen Woche vorübergehend festgenommen worden.