Tages Woche, 31.10.2015

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Hasankeyf wird in Erdogans Badewanne versenkt

Fast 12'000 Jahre Geschichte – doch jetzt scheint die Zeit für Hasankeyf abgelaufen. Der Ort soll geflutet werden. Noch eine letzte Hoffnung haben die Bewohner: die Neuwahlen in der Türkei. Von Stefan Pangritz
Stefan Pangritz: Das Tal des Tigris in der Stadt Hasankeyf bei Sonnenuntergang. Links das Minarett der El-Rizk Moschee und rechts die Pfeiler der byzantinischen Steinbrücke von 1116. Auf dem steilen Felsen dahinter befinden sich sehr alte Siedlungsstrukturen, die erhalten bleiben. Dort wohnte lange Zeit, gut geschützt, fast die gesamte Bevölkerung.

Das Tal des Tigris in der Stadt Hasankeyf bei Sonnenuntergang. Links das Minarett der El-Rizk Moschee und rechts die Pfeiler der byzantinischen Steinbrücke von 1116. Auf dem steilen Felsen dahinter befinden sich sehr alte Siedlungsstrukturen, die erhalten bleiben. Dort wohnte lange Zeit, gut geschützt, fast die gesamte Bevölkerung. (Bild: Stefan Pangritz)

Das Städtchen Hasankeyf brütet in der immer noch heissen Herbstsonne, als eine Gruppe Radfahrer aus Diyarbakir eintrifft. Sie hat die 135 Kilometer in rekordverdächtiger Zeit zurückgelegt. Die Radfahrer sind aber nicht auf Rekordjagd. Sie treten zum Protest in die Pedale. Jetzt an der Spitze von Demonstranten, die an ihrem Aktionstag gegen die Errichtung des Ilisu-Staudamms protestieren. Die natürliche Flusslandschaft des Tigris soll erhalten bleiben.

Das türkische Energieministerium hat einen anderen Plan. Rund 70 Kilometer von Ilisu entfernt will es einen gigantischen Damm aus Landmasse errichten – ein Stöpsel, der das Tal des Tigris wie eine riesige Badewanne volllaufen liesse. Auf einer Fläche von 313 Quadratkilometern.

Deshalb ist eine ganze Kohorte Umweltaktivisten aus vielen Städten Anatoliens nach Hasankeyf gereist, rund 500 Mitglieder verschiedener Umweltgruppen. Der kleine Ort zwischen dem Tigris und den Klippen des gebirgigen Plateaus des Tur Abdin ist für sie ein Symbol. Hasankeyf steht aus ihrer Sicht für eine verfehlte Energie- und Umweltpolitik der Türkei. Und für eine Jahrtausende alte Geschichte.
Ein fast 12'000 Jahre schwerer Kulturschatz droht einfach im Ilisu-Stausee versenkt zu werden.

Hasankeyf liegt an der ehemals wichtigen Seidenstrasse, die Anatolien mit Mesopotamien und Persien verband. Es gibt kaum einen besseren Ort, um die Vergangenheit der Menschheit zu studieren. Hier liegen Siedlungsreste von Assyrern, Ayyubiden, Artukiden, Persern, Römern, Arabern, Seldschuken, Osmanen neben- und übereinander geschichtet. Jüngste Ausgrabungen zeigen, dass es in Hasankeyf schon 9500 Jahre vor unserer Zeitrechnung organisierte Siedlungsstrukturen gegeben hat. Seine grösste Blüte erlebte der Ort zwischen dem 12. und dem 15. Jahrhundert, als Hauptstadt der artukidischen Türken und ayyubidischen Kurden.

Das alles droht vergessen zu gehen. Ein fast 12'000 Jahre schwerer Kulturschatz würde einfach im Ilisu-Stausee versenkt.

Klingelnd und skandierend passiert der Demonstrationszug das Nadelöhr von Hasankeyf, eine Betonbrücke aus den 1960er-Jahren. Es ist die einzige Stelle direkt im Ort, an welcher der Tigris überquert werden kann. Für die umliegenden Gebäude ist es jedes Mal ein kleines Erdbeben, wenn ein Tanklastzug darüber fährt. Aber investieren will hier niemand mehr. Ausser, wenn es direkt mit dem Damm zu tun hat.

Aus dem Stausee wird, wenn er voll ist, nur noch die Spitze des Minaretts herausschauen. (Bild: Stefan Pangritz)


Die Folgen davon sieht man, wenn man von der Brücke aus flussaufwärts schaut. Wie drei riesige verfaulte Zähne ragen die drei Pfeiler aus dem Tigris, die ab 1116 die artukidischen Steinbrücke zu tragen pflegten. Die Brücke war seinerzeit der Schlüssel zum Erfolg im regionalen Handelsverkehr. Heute verkleiden Handwerker die alten Pfeiler mit neuen Sandsteinen. Nicht, um deren Schönheit zu bewahren. Auch nicht, um die Identität des Ortes zu bewahren. Die neuen Steine sollen die historischen Pfeiler vor der Flutung schützen.

Wie das genau gehen soll, weiss hier keiner. Über die Details der Bautätigkeiten hat man die Einheimischen nicht informiert. Also reimen sie es sich selbst zusammen: Die Steine sollen der Brücke statischen Halt geben, wenn das Wasser kommt; die Architektur schützen, sodass nicht alles zerbröselt wäre, sollte man in fünfzig Jahren oder so das Wasser wieder aus der Badewanne ablassen.

Es schwirren noch mehr verrückte Ideen in der trockenen Herbstluft in Hasankeyf herum. Etwa die, dass an einer höher gelegenen Stelle eine Art archäologischer Disneypark entstehen soll, wohin die Überreste der Brücke sowie die wichtigsten beiden anderen Relikte des Ortes versetzt würden – das ayyubidische Minarett der El-Rizk-Moschee von 1409 und das Mausoleum des Zeynel Bey, der in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts lebte. Andere wiederum behaupten, es werde um den Ortskern von Hasankeyf ein innerer Damm gebaut, damit Interessierte auch nach der Flutung Zugang zu den kulturhistorischen Relikten hätten.

Das alte Hasankeyf und das neue: Während die Heimat von 3000 Bewohner als Kapitel in der Geschichte auf dem Grund des Sees landen soll, erstrahlt die moderne Siedlung oben bald im Glanz der Zukunft. (Bild: Stefan Pangritz)

Das einzige, was die Einheimischen aber mit Sicherheit wissen, ist dies: Oben im neuen Hasankeyf, wo die Zukunft der Bewohner liegen soll, wird vieles schicker sein. Als erstes wurden dort einige Verwaltungs-, Wohn- und Schulgebäude sowie eine Moschee errichtet. Irgendwann soll auch ein Hafen dazukommen. Noch gibt es ausser einigen Angestellten der Verwaltung, Polizisten oder Lehrern so gut wie keine Mieter da oben. Für die einfachen Leute sind diese Wohnungen in den modernen Immobilien schlicht zu teuer.

Drin liegen würde höchstens der Bus, der sie vom alten ins neue Hasankeyf bringt. Denn der fährt gratis. Die neuen Strassen, die installierte Beleuchtung, die künftigen Baugebiete – auch für diese Bilder reicht ihr Einkommen aus. Für mehr aber auch nicht. Und das wird sich auch kaum ändern, wenn sie die dürftige Entschädigung für die Umsiedlung ausbezahlt bekommen.

Hasankeyf II: Hier soll die Zukunft der Einheimischen liegen. Doch die modernen Wohnungen können sich die kleinen Leute gar nicht leisten. (Bild: Stefan Pangritz)

Welch schwerwiegende Folgen eines solch gigantisches Projekt wie der Ilisu-Staudamm haben kann, müsste die Türkei eigentlich wissen. Im Osten des Landes hat man mit dem Südostanatolien-Projekt (Gap) die Erfahrung bereits gemacht. Seit über 30 Jahren dauert dieses schon an. Auch dort musste umgesiedelt werden.

Zu was ein solches gigantisches Projekt und die darausfolgende Umsiedung führen kann, darüber gibt es an anderen Orten in der Osttürkei genügend Erfahrungen, während des nun über dreissig Jahre andauernden Südostanatolien-Projekt (GAP) gemacht, das unter anderem 22 Staudämme beinhaltet. Einer davon steht im unweit gelegenen Batman. Er ist nur ein Exempel dafür, wie ein Staudamm die dörflichen Strukturen zerstört.

So eine Umsiedlung macht nur mit, wer das Geld dazu hat – oder auftreibt. Wer kein Vermögen besitzt oder keinen Schuldenberg vor sich herschieben will, muss eine andere Lösung finden. Und viele Familien leben hier vor allem von dem, was sie selber anbauen. Damit lässt sich kein schmuckes Einfamilienhaus kaufen.

Leben von dem was Natur und Boden hergeben: Das Überleben in Hasankeyf hat nichts mit Geld zu tun. (Bild: Stefan Pangritz)

Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als in eine der umliegenden Städte abzuwandern. In einen vielstöckigen, gesichtlosen Wohnblock, wie sie allerorts in den Vorstädten aus dem Boden schiessen. Oder man emigriert gleich ins weit entfernte Ankara, nach Istanbul oder noch weiter. Beschleunigte Landflucht statt Umsiedlung vor Ort, wie es auf dem Plan stünde – so sieht die Realität aus. Schön ist das nicht, denn für die Entwurzelten folgt oft eine Existenz ohne Arbeit, ohne erkennbaren Sinn. Trist wie die Betonsilos, in denen sie wohnen müssen.

Die Demonstranten in Hasankeyf wissen das. Und die Bevölkerung spürt es. Mittlerweile ist der Zug am Ortseingang von Hasankeyf angekommen. Standpunkte werden verlesen, Forderungen, Anklagen. Der Verkehr beginnt sich zu stauen. Hupkonzert. Doch nicht aus Ärger. Die Fahrer der Viehtransporter, Tankzüge und Privatwagen wollen sich solidarisieren.

Wer fehlt, sind die Einwohner. So viele sich über Facebook für die Demo angemeldet hatten, so wenige sind tatsächlich aufgetaucht. Ist es Resignation? Oder ist der Druck bereits zu gross, sich nicht gegen den Staat zu exponieren? Vermutlich beides. Zudem sind es sich die Menschen hier nicht gewohnt, zu partizipieren. Oder genauer: dass ihre Stimme in einem demokratischen Sinn je gehört würde.

Nicht nur Kulturgüter von unschätzbarem Wert gehen mit der Flut unter, sondern auch das sensible ökologische System am und um den Tigris wird kaum das gleiche bleben. (Bild: Stefan Pangritz)

In den politischen Strukturen der Türkei haben die Regionen und ihre Bürgermeister wenig zu sagen, geschweige der Bürger vor Ort. Alle Proteste der regionalen Behörden gegen das Ilisu-Projekt blieben folgenlos. Und nicht nur die. Selbst das oberste Verwaltungsgericht der Türkei, das 2013 einen Baustopp verordnet hatte, konnte sich nicht gegen den Beschluss der Regierung durchsetzen, das Projekt durchzuziehen.

Dabei kam Widerstand auch aus dem Ausland. Der ursprüngliche Bau- bzw. Finanzierungsplan des Staudamms sah ein Konsortium vor, bestehend aus Firmen aus der Schweiz, Deutschland und Österreich. Das Konsortium hätte die gesamten Kosten übernommen, die mit dem Bau einhergehen. Im Gegenzug hätte es auf mehrere Jahre hinaus die Renditen der Energieausbeute erhalten. Auf Druck der Zivilgesellschaft und verschiedener Non-Profit-Organisationen hatte das Konsortium einen Forderungskatalog erarbeitet. Dieser beinhaltete strenge Auflagen für den Umwelt- und Kulturgüterschutz, aber auch für die Umsiedlung.

Nicht mal das oberste Gericht der Türkei konnte die Pläne stoppen.

Bis zum Stichtag am 6. Juni 2009 waren diese Forderungen noch immer nicht erfüllt. In der Konsequenz kündigten die Schweiz, Deutschland und Österreich die zuvor in Aussicht gestellten Exportrisikoversicherungen. Ohne diese Versicherungen können die Firmen das 1,2 Milliarden Franken teure Projekt nicht stemmen können, dachte man. Die entwicklungspolitische Organisation «Erklärung von Bern» und die internationale «Stop-Ilisu-Kampagne» glaubten an ihren Sieg. Der endgültige Ausstieg der Europäer hielt man für «das einzig richtige Signal». Ein weiteres positives Zeichen war, als auch potenzielle chinesische Partner abgewinkt hatten.

Doch dann beschloss die türkische Regierung kurzerhand, die Finanzierung selber zu stemmen.


Die Aufsicht auf Ilisu mit seinen diversen neuen Strukturen wie künstlich bewegten Landmassen lässt erahnen, mit welch gigantischer Dimension von Bauprojekt man es hier zu tun hat.

Am meisten entmutigt ist aber wohl die Bevölkerung vor Ort. Der Bau hat längst begonnen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis der Ilisu-Staudamm fertig wird. Das sollte ursprünglich Ende dieses Jahres der Fall sein. Inzwischen heisst es, sicher nicht vor 2016/17, eher später.

Der Ilisu-Damm ist einer der letzten und grössten der insgesamt 22 Staudämme und 19 Wasserkraftwerke, die im Gap-Projekt entlang von Euphrat und Tigris geplant oder bereits gebaut sind. Zusammen sollen sie den wachsenden Energiehunger des Landes stillen. Doch Anschläge auf Baufahrzeuge, entführte Arbeiter oder Streiks unterbrechen die Arbeiten immer wieder. Am Ilisu-Staudamm ruhen die Arbeiten derzeit komplett. Nur an der neuen Strasse, die oberhalb der zukünftigen Wasserlinie liegt, wird momentan gearbeitet.

Die eigentliche Baustelle des Staudamms ist grossräumig abgeriegelt und kann nur mit einer Sondergenehmigung aus Ankara besucht werden. Vor Ort sieht man schon von Weitem eine stark veränderte Geologie. Und die Verteidigungsanlagen, die das türkische Militär auf den umliegenden Bergen errichtet hat. Die Baustelle ist auch ein immer wieder erklärtes Ziel der PKK gewesen. Vermutlich ist der aktuelle Baustopp auch eine Folge der verschärften Situation zwischen der Türkei und der Kurden.
Mit dem Wasser des Tigris fing alles an, bald könnte es auch alles beenden.

Seit den Wahlen im Sommer und dem damit einhergehenden Machtverlust von Tayyip Erdogan hat sich die Lage auch hier verschärft. Für die Bewohner von Hasankeyf sind die erneuten Wahlen an diesem Wochenende ein letzter Hoffnungsschimmer. Wer weiss, vielleicht können die vernünftigen und fortschrittlichen Kräfte die Oberhand gewinnen. Vielleicht gelingt dann doch noch die erhoffte Kehrtwende in der langen Auseinandersetzung um die Zukunft von Hasankeyf, den vielen umliegenden Dörfern und dem wunderschönen Tal des Tigris. Vielleicht kann jemand den Stöpsel aus der Wanne ziehen, bevor das Wasser eingelaufen ist.

Die Chancen sind gering. Doch am Mut der Bevölkerung soll es nicht liegen, sind die Teilnehmer am Demonstrationszug überzeugt. Sie haben den Endpunkt des Aktionstages erreicht – das Ufer des Tigris. Einige lassen kleine Drachen in den Himmel steigen, andere kühlen sich im Fluss ab und singen kurdische Lieder. Der Protest hört da auf, wo vor 12'000 Jahren die Kulturgeschichte des Ortes anfing. Am Wasser des Tigris, das in naher Zukunft auch alles beenden könnte.

TUR, Turkey, 2015-09-20, Hasankeyf © Stefan Pangritz - Friedlicher fröhlicher Protest mit Demo und anschließendes Singen, Tanzen und Drachen steigen lassen in Hasankeyf, gegen die Errichtung des Ilisu-Staudamms.

Ein friedlicher und fröhlicher Protest gegen die Errichtung des Ilisu-Staudamms endet im Tigris. (Bild: Stefan Pangritz)