Neues
Deutschland, 29.10.2015
http://www.neues-deutschland.de/artikel/989464.der-tuerkische-staat-betrachtet-uns-als-politischen-stoerfaktor.html
Von Jan Keetman
»Der
türkische Staat betrachtet uns als politischen Störfaktor«
Der
Bürgermeister der kurdischen Stadt Mardin, Ahmet Türk, klagt die Regierung
an, Angst vor den Kurden zu schüren
Sie sind seit langer
Zeit in der kurdischen Politik. Hat sich an der politischen Grundkonstellation
etwas geändert, oder ist sie immer gleich geblieben?
Im Grunde hat
sich nichts geändert. Von Zeit zu Zeit wurden unsere Parteien verboten,
aber das kurdische Volk hat seinen Kampf fortgesetzt. Ethnische und konfessionelle
Unterschiede werden genutzt, um Völker gegeneinander aufzuhetzen. Es ist
leider eine Realität, dass überall im Mittleren Osten die Kurden von den
Regierenden als Gefahr gesehen werden.
Wo zum Beispiel?
In der gesamten Region; von den Arabern, den Iranern, den Türken. In den
Staaten, in denen die Kurden leben, werden sie als politischer Störfaktor
betrachtet. Aber wenn wir mit den anderen Völkern solidarisch sind, können
wir die unitäre, nationalistische, rassistische Politik dieser Staaten
überwinden. Deshalb glaube ich, dass sich die Befreiung der Kurden nicht
von der Befreiung der anderen Völker trennen lässt.
Hat der Aufstand von Rojava,
der kurdischen Gebiete in Nordsyrien, die türkische Kurdenpolitik beeinflusst?
Natürlich, ein Viertel der Bevölkerung der Türkei sind Kurden. Nun sieht
die Türkei die Selbstbefreiung der Kurden von Rojava als eine Gefahr für
sich selbst. Obwohl der Islamische Staat (IS) eine große Gefahr auch für
ihr Volk ist, unterstützt ihn die Türkei unter der Hand. Das ist etwas,
was man nicht mehr verheimlichen kann. Wir haben dafür Beweise.
Es wird regelrecht Angst vor
den Kurden geschürt. Diese sollen um Gottes Willen nicht die Augen aufmachen.
Kein Teil der kurdischen Gebiet soll irgendeinen besonderen Status gewinnen,
nicht in Irak, nicht in Iran, nicht in Syrien und nicht in der Türkei.
Denn wenn sie irgendwo einen eigenen Status gewinnen, so werden sie diese
Forderung in den anderen Staaten auch auf die Tagesordnung bringen. Deshalb
wird dafür gesorgt, dass die Kurden nirgends einen Atemzug Freiheit nehmen
können. Wenn es in Syrien keine Kurden gäbe, dann würde sich die Türkei
gegenüber dem IS vielleicht ganz anders verhalten.
Wir haben in den kurdischen
Städten Cizre und Nusaybin eine Art der Unterdrückung gesehen, wie sie
in Friedenszeiten unvorstellbar ist.
Der türkische Staat versucht alles, um vor der eigenen Gesellschaft wie
vor der Welt die Wahrheit zu verbergen. Obwohl in Cizre an einem Tag 16
Menschen durch das Militär getötet wurden, hat Ministerpräsident Ahmet
Davutoglu behauptet, niemand sei auch nur verletzt worden. Der Staat tut
so, als schützte er lediglich das Volk. Dabei hat er aus anderen Regionen
Sondereinheiten herbeordert, die der örtlichen Bevölkerung extrem feindselig
gegenüberstehen, die Druck machen, die angreifen. Das ist Kriegspolitik.
Gegenüber den eigenen Anhängern mag man das verschleiern können. Aber
man kann es vor den Kurden nicht verheimlichen und auf Dauer auch nicht
vor der übrigen Welt.
Welche Gedanken bewegen Sie
vor den am Sonntag anstehenden Parlamentswahlen?
Ich beobachte eine Politik, die offenbar das Volk von der Wahl abschrecken
soll. In jedem Kreis wurden Sicherheitszonen festgelegt. Dort gibt es
dann keine Möglichkeit, Wahlveranstaltungen zu machen. HDP-Vertreter werden
behindert. Die Polizei sagt ihnen: »Hierher können Sie nicht kommen, hier
ist eine Sicherheitszone.« Das alles hat mit Demokratie nichts zu tun.
Ahmet Türk ist
eine Art Doyen der kurdischen Politik. Der 1942 in Derik, Provinz Mardin,
geborene Sohn eines Holzfällers saß für verschiedene linke und kurdische
Parteien seit 1973 immer wieder im türkischen Parlament. Er war Vorsitzender
der Partei für eine Demokratische Gesellschaft, die 2009 verboten wurde.
Nach dem Militärputsch 1980 und noch einmal 1994 musste Türk für jeweils
zwei Jahre ins Gefängnis. Heute ist er Bürgermeister der 90 000-Einwohner-Stadt
Mardin.
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