Neue Zürcher Zeitung, 30.10.2015

http://www.tagesspiegel.de/meinung/selahattin-demirtas-im-schatten-der-pkk/12523072.html

Syriens Kurden

Ankaras Angst vor «Rojava»

Mit seiner Kurdenpolitik ist Erdogan nicht nur im eigenen Land gescheitert – auch in Syrien hat er sich verkalkuliert. Die Entstehung eines weiteren Kurdenstaates will er um jeden Preis verhindern.

Kommentarvon Daniel Steinvorth

In der oft schwer nachvollziehbaren Gedankenwelt des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan leben viele Feinde – seit geraumer Zeit gehört auch die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) dazu. Geht es nach Erdogan und seinen ihm ergebenen Presseorganen, ist die dominierende politische Kraft der syrischen Kurden nicht mehr als ein Ableger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und als solche eine ebenso grosse Gefahr wie der Islamische Staat (IS). Die Tageszeitung «Sabah» bezeichnete die Kurdenpartei sogar als noch gefährlicher.

Den vorläufigen Höhepunkt der Denunziationskampagne lieferte der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu, als er versuchte, die PYD auch für den verheerenden Terroranschlag von Ankara verantwortlich zu machen. Demnach soll die Tat, die am 10. Oktober über 100 Teilnehmer einer Friedensdemonstration das Leben kostete, nicht allein vom IS, sondern von einer recht bemerkenswerten Allianz aus IS, PYD, PKK und Syriens Geheimdienst geplant worden sein. In der für Verschwörungstheorien empfänglichen Bevölkerung fiel das auf fruchtbaren Boden. So glaubt laut einer Umfrage eine Mehrheit der Türken tatsächlich, dass nicht Jihadisten, sondern militante Kurden hinter dem Anschlag steckten.

Zur grossen Frustration Ankaras vertreten der Westen, aber auch Russland und Teile der arabischen Welt einen völlig anderen Standpunkt gegenüber der PYD und ihrer Miliz, den sogenannten Volksverteidigungseinheiten. Sie sehen die syrischen Kurden nicht als Terrorgruppe, sondern als Bollwerk gegen den Terror. Spätestens seit ihrem Sieg gegen den IS in Kobane Ende Januar feierte man die kurdischen Kämpferinnen und Kämpfer weltweit als Helden, denn zum ersten Mal hatte jemand dem erfolgreich expandierenden «Kalifat» von Abu Bakr al-Baghdadi Einhalt geboten. Ermöglicht wurde dies freilich durch die Unterstützung der Amerikaner, die ihren Luftkrieg mit den syrischen Kurden militärisch koordiniert hatten. Für die USA sind diese seither wichtige Verbündete. Genauso buhlt Russland, das wieder eine Schlüsselrolle in der Region spielen will, um die Gunst der Kurden. Um die PYD als Partnerin zu gewinnen, soll ihr der russische Präsident Wladimir Putin sogar eine offizielle Vertretung in Moskau angeboten haben. Es wäre ein erster Schritt hin zu einer internationalen Anerkennung der kurdischen Autonomiegebiete in Nordsyrien – ein Albtraum für die Türkei. Aber kann Ankara die Entstehung eines weiteren kurdischen De-facto-Staates im Nahen Osten überhaupt noch verhindern?

Militärische Optionen

Die Rede ist von «Rojava» (Westkurdistan), einem Territorium aus drei Enklaven im Norden Syriens, in denen vor allem die etwa zweieinhalb Millionen Kurden des Landes leben. Schon zu Beginn des Bürgerkrieges hatten ihre Milizionäre damit begonnen, die Gebiete an der Grenze zur Türkei unter ihre Kontrolle zu bringen. Am 30. Januar 2014 riefen sie schliesslich die Autonomie aus. Die in «Rojava» bestimmende politische Kraft, die PYD, verwirklichte sogleich ihr Gesellschaftsmodell, das sich nach der Ideologie des inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan richtet: Entschieden laizistisch und progressiv ist es, was etwa die Gleichberechtigung von Mann und Frau oder die Partizipation von Minderheiten betrifft, zugleich jedoch repressiv, wenn es um die Duldung oppositioneller Kräfte geht.

Man muss die PKK mit ihrer blutigen Geschichte nicht beschönigen. Doch Beobachter sind sich einig, dass sich ihr Vordenker von der autoritär-marxistischen Haltung früherer Tage verabschiedet hat. Auch fordert Öcalan in seinen Schriften nur noch Demokratie und Autonomierechte für die Kurden, aber keinen eigenen Staat mehr. Mit dieser Botschaft versuchte der PYD-Führer Salih Muslim, der im vergangenen Jahr mehrfach in die Türkei reiste, den Nachbarn im Norden zu beruhigen – vergeblich. Die Option, gegen Syriens Kurden militärisch vorzugehen, behielt sich Ankara vor. Und auch im Nordirak stiess Muslim auf Misstrauen, denn hier stand der konservative Kurdenführer Masud Barzani schon immer auf Kriegsfuss mit der linken PKK und ihren Ablegern.

Keineswegs garantiert war also die Existenz von «Rojava», und vielleicht war es sogar der Kampf gegen den Islamischen Staat, der dessen Überleben sicherte: Zum einen hatte sich die Türkei die längste Zeit geweigert, gegen die Extremisten vorzugehen, und die Amerikaner brauchten dringend einen militärischen Partner am Boden. Zum anderen waren es syrische und PKK-Kämpfer, die sich weltweit Respekt verschafft hatten, weil sie mit ihrer Evakuierung der Jesiden im Sinjar-Gebirge eine ethnische «Säuberung» der bedrohten Glaubensgemeinschaft verhinderten (worauf in Washington und Brüssel sogar darüber diskutiert wurde, die PKK von der Terror-Liste zu streichen). Mit westlichem Beistand durfte die PYD fortan rechnen. Dass sie sich im syrischen Bürgerkrieg zudem weder auf die Seite des Asad-Regimes noch auf die der Rebellen schlug, wirkte ebenfalls systemstabilisierend. Zwar brachte ihr dies viel Kritik vor allem vonseiten der Rebellen ein. Für die kurdische Bevölkerung aber war es, wie der deutsche Nahostkenner Günther Seufert glaubt, im Rückblick die weiseste Wahl. Was hätten sie von einer sunnitisch-arabisch dominierten Opposition zu erwarten gehabt, die den Kurden auch keine Minderheitenrechte einräumen will und deren militärischer Niedergang zurzeit zu beobachten ist?

Erdogans Scherbenhaufen

Bleibt die türkische Regierung. Sie scheint von den Ereignissen im Nachbarland derzeit am meisten überfordert zu sein, ihre Syrien-Politik jedenfalls gleicht einem Scherbenhaufen. Um sowohl Asad zu stürzen wie die Erschaffung eines Kurdenstaates zu verhindern, hatte Erdogan gezielt extremistische Kämpfer unterstützt und auch den IS gewähren lassen. Doch haben sich bisher weder die Machtverhältnisse in Damaskus ändern noch die kurdische Autonomiebewegung unterdrücken lassen – wohingegen zahllose IS-Rückkehrer der Türkei ein massives Terrorproblem beschert haben. Mit einer Schutzzone in Nordsyrien will sich Erdogan Kontrolle über die Kurden und längerfristigen Einfluss in der Region sichern, doch stösst er damit bei den USA auf taube Ohren. Es wäre auch kurios, wenn Washington Erdogans Ängste teilen und die Kurden plötzlich mehr als den IS fürchten würde. Ein klarer Konflikt mit den Amerikanern ist ja längst offensichtlich: So hat die türkische Regierung diese Woche zugegeben, gleich zweimal in Nordsyrien Stellungen der Kurden beschossen zu haben. Weil die amerikanischen Verbündeten einen Angriff auf Jarabulus, die letzte vom IS kontrollierte Grenzstadt zwischen Syrien und der Türkei, vorbereitet hatten, sah sich die türkische Armee zum Handeln provoziert. Das Gebiet westlich des Euphrats betrachtet sie als Tabu. Sie will um jeden Preis verhindern, dass die syrischen Kurden auch hier Geländegewinne erzielen und schliesslich die gesamte Region entlang der Grenze zur Türkei kontrollieren könnten.

Nicht zufällig erfolgten die Angriffe in Nordsyrien wenige Tage vor den türkischen Neuwahlen am 1. November. Der «Kampf gegen den Terror» spielte im Wahlkampf der amtierenden Regierungspartei AKP eine zentrale Rolle. Dabei ist der Terrorbegriff in der Türkei heute überaus flexibel verwendbar, und nicht nur mutmassliche PKK-Anhänger oder Linksextremisten, sondern auch kritische Journalisten stehen schnell unter Terrorverdacht. In Zeiten massiver innenpolitischer Spannungen und blutiger Anschläge empfehlen sich die AKP und Staatschef Erdogan als Garanten für Sicherheit. Mit Militärschlägen gegen die PKK und Repressionen gegen die Zivilbevölkerung im türkischen Südosten gibt sich der Präsident auch in der Kurdenfrage entschlossen: Umfragen hatten ihn davon überzeugt, dass der Friedensprozess mit der PKK nur Stimmen kosten würde, und so brach Erdogan die Verhandlungen nicht etwa aufgrund von Aktionen der PKK ab. Genauso stiess er die Kurden in der Türkei vor den Kopf, als er mehrfach den Fall Kobanes herbeiredete und die Verteidiger der Stadt als Terroristen bezeichnete. Dass Erdogan mit dieser Politik den Konflikt verschärfte und zahlreiche junge Kurden erst recht in die Arme der PKK trieb, war vorhersehbar. Womöglich wollte der Präsident aber auch genau das erreichen.