Die Welt, 01.11.2015

http://www.welt.de/politik/ausland/article148286663/Der-ruhige-Herr-Direktor-ist-der-Anti-Erdogan.html

Kemal Kilicdaroglu

Der ruhige "Herr Direktor" ist der Anti-Erdogan

Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu von Atatürks Partei CHP gilt in der Türkei als langweiliger Aktenfresser. Präsident Erdogan kann er bei der Parlamentswahl dennoch gefährlich werden. Von Deniz Yücel

Die Welt von Kemal Kilicdaroglu ist eine sachliche. Eine Welt voller Studien und Kommissionen, voller Untersuchungsberichte und Zahlen. Immer wieder Zahlen. Was die drängendsten Probleme der Türkei sind? "Fünf", sagt Kilicdaroglu, spreizt alle Finger seiner rechten Hand und zählt auf: Rechtsstaatlichkeit, Außenpolitik, Wirtschaft, Bildung und "gesellschaftlicher Frieden, also das Kurdenproblem". Und wie löst man diese Probleme? Mit "14 Maßnahmen", die er genauso sicher aufzuzählen weiß.

Kemal Kilicdaroglu – 67 Jahre alt, gütiger Blick über dem Schnurrbart – ist seit Mai 2010 Vorsitzender der altehrwürdigen Republikanischen Volkspartei (CHP), der Partei des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk. Und nicht allein wegen seiner Körpergröße von 1,73 Metern ist er ein Gegenentwurf zu dem Mann, der von seinen Anhängern "Der Lange" genannt und als bedeutendster Staatsmann mindestens seit Atatürk verehrt (Link: http://www.welt.de/148169716) wird: Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. Der eine begeistert und polarisiert, der andere überzeugt und argumentiert.

Der eine wähnt sich als Erfüller eines Auftrags, der andere sieht Arbeit, die zu erledigen ist. Der eine wird von seinen Anhängern geliebt, der andere von den Seinigen respektiert. Kilicdaroglu ist keiner dieser Alphatiere, die die türkische Politik sonst hervorbringt, weshalb ihn Erdogan gern als "Herrn Direktor" verspottet. Und auch der Charme des "kurdischen Obama" Selahattin Demirtas fehlt ihm. Kilicdaroglu wirkt etwas spröde, aber nicht wie ein gefühlloser Bürokrat. Eher wie ein netter Onkel, der es gut meint mit den Neffen und Nichten.

Partei Atatürks liegt bei 25 Prozent

Dabei ist es nicht so, dass die CHP bei der Neuwahl am Sonntag realistische Aussichten hätte, zur stärksten Partei zu werden. Die letzten Umfragen sagen ihr bestenfalls 25 Prozent voraus, Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) liegt etwas über 41 Prozent. Anders als bei der Wahl im Juni gilt als sicher, dass die prokurdisch-linke HDP den Sprung ins Parlament schafft. Und dennoch könnte die AKP durch das türkische Wahlsystem eine knappe Mehrheit der Parlamentsmandate erringen.

Dann dürfte Erdogan weiter in seinem De-Facto-Präsidialregime regieren – was wiederum eine bittere Niederlage für Kilicdaroglu wäre. Doch falls die AKP die Mehrheit verpasst, könnte Kilicdaroglu als der Mann in die Geschichte eingehen, der entscheidend dazu beigetragen hat, Erdogans Allmacht ein Ende zu bereiten. Schließlich lag es nicht am AKP-Chef und Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu, dass keine Koalition (Link: http://www.welt.de/145205975) zustande kam, sondern an Erdogan.

Die fünf Monate seit der letzten Wahl hat Kilicdaroglu vielleicht besser genutzt als jeder andere Parteichef. Weder hat er sich wie Devlet Bahceli, der Chef der nationalistischen MHP, allen Koalitionsgesprächen verweigert, noch hat er, wie HDP-Chef Selahattin Demirtas, der AKP alle Türen zugeschlagen. Kilicdaroglu ist stolz darauf, als einziger Parteiführer mit allen anderen zu reden. Und mit noch etwas sorgte die CHP dieser Tage für Aufmerksamkeit: Aufarbeitung.

Der Terroranschlag von Suruc und die Umtriebe des "Islamischen Staates"? Kilicdaroglu beauftragt eine Delegation von CHP-Abgeordneten, die Vorgänge zu untersuchen. Zugleich ging er keinem Live-Interview aus dem Weg: beim AKP-nahen Sender ntv, beim prokurdischen IMC, beim türkischen Ableger von Fox. Keine Selbstverständlichkeit in einem Land, in dem die Regierenden sich nur den Fragen opportuner Journalisten stellen und unangenehme Medien boykottieren oder gleich beschlagnahmen.

CHP ist wieder sozialdemokratisch

Ausgleich, Dialog, Sachthemen – diesen Weg hat Kilicdaroglu auch in der eigenen Partei eingeschlagen. Wo sonst allein die Parteiführer die Kandidatenlisten bestimmen, ließ er eine Mitgliederbefragung durchführen und vergab nur ein paar Listenplätze selber. So reservierte er die Spitzenplätze in den Metropolen Istanbul, Ankara und Izmir für Frauen. Für die türkisch-armenische Rechtsanwältin Selina Özuzun-Dogan zum Beispiel. Oder für die Wirtschaftsprofessorin und frühere Weltbank-Mitarbeiterin Selin Sayek-Böke. Frauen um die 40 mit internationaler Berufserfahrung, aber Neulinge in der Politik, die, das geben sie im Gespräch offen zu, unter dem alten CHP-Chef Deniz Baykal, einem kemalistischen Hardliner, nicht einmal der Partei beigetreten wären.

Nicht zuletzt dank ihnen hat die CHP wieder einen linksliberalen Flügel, während Kilicdaroglu den kemalistischen Flügel zurechtgestutzt hat. Die CHP ist wieder eine sozialdemokratische Partei. Und genau in der Mitte steht Kilicdaroglu – ein bisschen linksliberal, ein bisschen sozialistisch, ein bisschen kemalistisch.

Doch so sehr sich Kilicdaroglu und Erdogan in Charakter, Stil und Weltanschauung unterscheiden, gibt es auch eine Gemeinsamkeit: Beide sind Aufsteiger. Erdogans Familie stammt aus der Schwarzmeerprovinz Rize, er wuchs selber im Istanbuler Werftenviertel Kasimpasa auf. Kilicdaroglu wurde als viertes von sieben Kindern einer kleinen Beamtenfamilie in der ostanatolischen (Link: http://www.welt.de/148270250) Provinz Tunceli geboren.

Als Alevit in der mehrheitlich sunnitischen Türkei

In einem aktuellen Wahlkampfspot erzählt er davon, dass er als Kind oft mit Hunger im Bauch schlafen gegangen sei. Für ihn ganz neue Töne. Denn im Gegensatz zu Erdogan (Link: http://www.welt.de/148241735) , der sich mit seinem Aufsteigertum brüstet, ist Kilicdaroglu davon überzeugt, dass er seine Karriere, die ihn vom Finanzministerium bis an die Spitze der staatlichen Sozialversicherung geführt hat, der Republik und ihrem Bildungssystem zu verdanken hat. Seine Herkunft hat er nie groß thematisiert – was ihm den Vorwurf eingebracht hat, er würde seine eigene Identität leugnen.

Tunceli, Kilicdaroglus Heimatprovinz, ist größtenteils kurdisch und die einzige mehrheitlich alevitische Provinz der Türkei (Link: http://www.welt.de/148150650) . Mancher Beobachter glaubt, allein wegen seiner alevitischen Herkunft wird Kilicdaroglu niemals Ministerpräsident der mehrheitlich sunnitischen (Link: http://www.welt.de/148183921) Türkei werden.

Trotzdem oder auch deswegen behauptet er nun: "Nur die CHP kann den Kurdenkonflikt lösen." Sein Rezept? Eine Kommission des Parlaments müsse die Dinge untersuchen und mit allen reden, mit Wissenschaftlern, Vertretern der Zivilgesellschaft, auch der PKK und ihrem inhaftierten Anführer Abdullah Öcalan. Und dann? "Dann wird sie ihren Bericht vorlegen." Sachlich und unaufgeregt, so lösen sich Probleme in der Welt des Kemal Kilicdaroglu.