zeit.de, 01.11.2015

www.zeit.de/politik/ausland/2015-11/tuerkei-wahl-ziya-pir


Istanbuldan / Türkei-Wahlen :

"Hoffnungen werden gerade zerbombt"

Eine Kolumne von Özlem Topçu

Ziya Pir, HDP-Abgeordneter der kurdischen Stadt Diyarbakır, kritisiert die "Kriegsrhetorik" Erdoğans. Der Präsident lässt nach nur vier Monaten erneut wählen.

Wir führen unser Gespräch in einem Nebenraum des Leichenschauhauses am staatlichen Krankenhaus von Diyarbakır, und das ist vielleicht schon ein Teil der Antwort auf die Frage, was es in diesen Tagen bedeutet, Parlamentsabgeordneter dieser Stadt zu sein. Man verbringt viel Zeit auf Beerdigungen. Oder auf Hochzeiten. Im Leichenschauhaus oder in Hochzeitssälen, "das ist gerade mein Leben", sagt Ziya Pir, Abgeordneter der prokurdischen Partei HDP. Das Leben scheint hier gerade nur zwei Aggregratzustände zu kennen: unfassbares Glück oder tiefen Schmerz.

Drei Todesfälle bringen ihn heute hier ins Krankenhaus: Eine junge Guerillera, die bei den anhaltenden Kämpfen mit den türkischen Sicherheitskräften getötet wurde und deren Leiche der Staatsanwalt nicht freigibt, obwohl die Obduktion abgeschlossen wurde (immer wieder telefoniert Pir zwischendurch mit ihm und versucht herauszufinden, woran es liegt); ein 13-jähriges Mädchen, das, so heißt es, von einer Polizeikugel getroffen wurde; und ein älterer Mann, der einen Herzinfarkt erlitten haben soll, als die Polizei Tränengas einsetzte – in der Altstadt herrscht seit Tagen Ausgangssperre, es wird geschossen und gekämpft.

Als ich Ziya Pir kennenlernte, stand er vor einer Wahl. Jetzt, vier Monate später, steht er wieder vor einer. Heute bestimmt die Türkei das zweite Mal in diesem Jahr sein Parlament. Es ist eine Wahl, die nur stattfindet, weil das Ergebnis der ersten dem Staatspräsidenten nicht gefiel.

Beim letzten Mal war das vorherrschende Thema, ob die HDP es über die Zehnprozenthürde schaffen würde. Sie tat es, es war eine kleine Sensation, seitdem sitzen erstmals Vertreter einer vorwiegend kurdischen Partei im türkischen Parlament. Weil die HDP reinkam, verlor die AKP ihre absolute Mehrheit. Jetzt ist das Thema: Findet das Land zurück auf den Weg der Demokratie, der Stabilität und des Friedens, auf dem es eigentlich schon war? Für die Opposition und Regierungsgegner hat dieser Weg eher eine Chance, wenn die AKP-Regierung von Recep Tayyip Erdoğan es wieder nicht schafft, allein zu regieren. Sie sagen: Es liegt in ihrer Verantwortung, dass es dem Land gerade so schlecht geht.

Vor der ersten Parlamentswahl in der Türkei in diesem Jahr am 7. Juni habe ich Pir mehrere Monate immer wieder getroffen und im Wahlkampf begleitet, in der Türkei und in Deutschland. Der 44-jährige Betriebswirt hatte noch bis April eine eigene, gut laufende Firma für Zahntechnik in Duisburg, 30 Mitarbeiter, es war ein gutes Leben, das er in Deutschland hatte. Aber anscheinend war es nicht "das" Leben. "Warum wollen Sie unbedingt Ihr bequemes Leben in Deutschland aufgeben und in das Chaos der türkischen Politik einsteigen – auch noch in einer Kurdenpartei?", fragte ich ihn damals – und das war noch vor dem Beginn der brutalen Phase, in die das Land nach der Wahl geriet. Er sagte: "Das ist mein Land. Ich will mithelfen, dass endlich Frieden zwischen Türken und Kurden herrscht."

Aber da war noch etwas anderes. Ziya Pirs persönliche Friedensmission hat viel mit seiner Familiengeschichte zu tun: Sein Onkel Kemal war neben Abdullah Öcalan einer der Mitbegründer der PKK. Sein Onkel, der noch heute unter Kurden besonders verehrt wird, weil er als Türke die Kurdenbewegung mitbegründete, kämpfte mit der Waffe für die "Befreiung" der Kurden. Der Neffe mit Politik. Vor der ersten Wahl dieses Jahres bedeutete Politik für Pir, Türken und Kurden miteinander zu versöhnen, so begann ich den Text damals über ihn. Heute bedeutet sie, viel Zeit mit Tod und Terror zu verbringen.

Es ist Tag zwei nach dem Terroranschlag auf die Friedensdemonstration in Ankara mit über 100 Toten und mehr als 250 teilweise schwer verletzten Menschen. Für Ziya Pir war es bereits der zweite schwere Anschlag innerhalb von vier Monaten. Als am 5. Juni, zwei Tage vor der ersten Parlamentswahl, bei der Abschlusskundgebung seiner Partei in Diyarbakır zwei Sprengsätze detonierten, stand er mit seinen Parteifreunden auf der Bühne. Jetzt, nach Ankara, hat er einen von ihnen tot zurück in die Heimat gebracht. Er erzählt das ganz ruhig und konzentriert, und nein, wie es ihm damit gehe, das stehe nun nicht im Vordergrund.

"Die Türkei ist eine rassistische Gesellschaft"

Die HDP war Teil der Friedensdemo, so wie viele andere überwiegend aus dem linken Spektrum stammende Gruppen, Parteien und Gewerkschaften.

"Ich hatte eigentlich erwartet, dass der Friedensprozess weitergehen würde, als ich antrat", sagt Pir und meint den Prozess, den die AKP-Regierung von Recep Tayyip Erdoğan mit der PKK und ihrem inhaftierten Anführer Abdullah Öcalan angefangen hatte. Seit Beginn dieser Gespräche hatten die Menschen im Südosten der Türkei und die Eltern von türkischen Soldaten Frieden geschmeckt. Doch davon war in den vergangenen Monaten nicht mehr viel zu spüren. "Der Glaube an Frieden und Hoffnungen werden gerade zerbombt", sagt Ziya Pir. Es gebe da eine "Kriegsrhetorik" der Regierung und des Staatspräsidenten, die mitverantwortlich sei für den Zustand des Landes, eine Rhetorik, die auch seine Partei und kurdische Bürger an vielen Orten zur Zielscheibe von Angriffen gemacht habe. Die Regierung versuchte auch, die HDP als "verlängerten Arm" der PKK darzustellen. Vielleicht hat die Kurdenpartei darauf auch noch nicht die perfekte Antwort. Aber viele im Land sind auch noch nicht bereit zu sehen, dass kein Weg an der Zivilisierung und Parlamentarisierung der Kurdenbewegung vorbeiführt. "Die Türkei ist eine rassistische Gesellschaft", sagt Ziya Pir, und es hat eine gewisse Bedeutung, wenn ein Patriot wie er das sagt.

Er passt so gar nicht in die harte Politszene der Türkei. Dafür ist er zu selbstkritisch. Und in die HDP passt er eigentlich auch nicht richtig. Ja, wegen seines Onkels schon, der die Sache mit den Kurden anfing. Aber eigentlich ist Pir ein Konservativer, ein Patriot von der Schwarzmeerküste, wo die Menschen nationalistisch geprägt sind, ständig Angst um die Einheit von Staat und Vaterland haben und nicht viel Interesse an Zugeständnissen an Kurden. Trotzdem hat er sich die Sache der Kurden zu eigen gemacht. Sie kennengelernt, auch ihren Schmerz gesehen, ihre Unterdrückung, ihre Armut. Frieden kann es ja nur mit ihnen geben, nicht an ihnen vorbei.

Wer weiß, vielleicht wird die HDP die PKK irgendwann überflüssig machen. Ganz sicher braucht die türkische Politik mehr solcher Irritierer wie Pir.

Nach dem Krankenhaus fahren wir in die abgeriegelte Altstadt. Gepanzerte Fahrzeuge, Polizisten in Zivil mit Schutzwesten, Jeans, Sneakers und Sonnenbrille stehen am Eingang, eine Gruppe von Bürgern hinter der Absperrung. Einige wollen hinein, nach ihren Verwandten sehen. Andere sind nur neugierig. Pir bittet um Einlass und fordert, den ranghöchsten Beamten zu sprechen. Der Mann kommt sofort. Blonde Haare, blaue Augen, ein Schrank von Kerl, auch er Hoodie, Jeans, Sportschuhe, Funkgerät in der Hand. Er lächelt freundlich und läuft direkt auf Pir zu. "Guten Tag, Herr Abgeordneter", sagt er mit demonstrativem Respekt. Die beiden unterhalten sich. Der Polizist sagt, dass die Ausgangsperre bald aufgehoben wird. Dann lässt er auf Bitten von Pir eine Frau durch die Absperrung.

Später sagt er, dass der Polizist natürlich gut geschult ist und er sich nicht von dessen sanfter Art beeindrucken lasse. Dass aber auch die meisten Polizisten, wie dieser hier, die Kämpfe satt hätten. "Wenn wir beide die Verhandlungen führen könnten, hätten wir hier schon lange Frieden."