junge Welt, 02.11.2015

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»Auswärtiges Amt blockiert jede humanitäre Hilfe«

Aktionstag erinnerte an die Situation in Kobani und den Kampf der kurdischen Verteidigungseinheiten. Gespräch mit Songül Karabulut

Interview: Interview: Gitta Düperthal

Songül Karabulut ist im Vorstand des Exekutivrates des Kurdistan-Nationalkongresses (KNK), der im Dialog nach innen und als Vertretung der Kurden nach außen den Friedensprozess in der Türkei und Syrien vorantreiben will
Weshalb wurde am »Internationalen Aktionstag für die Freiheit und den Wiederaufbau von Kobani« weltweit demonstriert – auch in mehr als 25 deutschen Städten?

Zum 1. November 2014 wurde der Aktionstag ins Leben gerufen, um den nordsyrischen von Kurden selbstverwalteten Kanton Kobani zu unterstützen. Die Stadt gilt als Symbol für den Widerstand gegen die Greueltaten der Terrormiliz des »Islamischen Staates« (IS). Um politische Unterstützung für die kurdischen Kämpferinnen und Kämpfer der Frauen- und Volksverteidigungseinheiten YPJ/YPG zu fordern, gingen damals Menschen in Berlin, Paris, London, Rom, Stockholm, Washington, Toronto, Mexiko-Stadt, Moskau, Erbil, Istanbul, Johannesburg und Kairo auf die Straße. Zum Jahrestag gilt es zu erkennen, dass die demokratische Selbstverwaltung in Rojava und das Modell der drei autonomen Kantone in Nordsyrien, Afrin, Kobani und Cizire dringend weiterhin Unterstützung braucht: Auch im Interesse der Europäischen Union, die angesichts der Flüchtlingskrise äußert, Fluchtgründe in Syrien beseitigen zu wollen. Wir appellieren an die europäischen Staaten, Projekte in Rojava zu fördern, damit die Menschen bleiben und ihren Lebensunterhalt dort verdienen können.

Wie ist die Situation in Kobani?

Die Stadt ist befreit, aber zu 80 Prozent zerstört. Menschen beseitigen dort Minen, die die Terrormiliz hinterlassen hat und räumen Leichen weg, die unter Trümmern aufgefunden werden – auch um die Seuchengefahr zu bekämpfen. Internationale Nichtregierungsorganisationen aus Italien, Spanien, Schweden helfen; aus Deutschland ist zum Beispiel Medico International sehr engagiert. Der Wiederaufbau ist beschwerlich, da die Türkei verhindert, dass ein Korridor entsteht, um Güter hineinzuschaffen. Europäische Helfer, die sich daran beteiligen wollen, werden oft am Grenzübergang gestoppt. Noch immer fehlt die Entscheidung europäischer Staaten, in Kobani Hilfe zu leisten. Das deutsche Auswärtige Amt blockiert bis dato jede humanitäre Unterstützung für Rojava; nur kleine Spenden sind bisher eingegangen.

Zudem greift die Türkei militärisch an …

So ist es. Obgleich Abgeordnete des Europäischen Parlaments die Türkei wiederholt aufgefordert hatten, Kobani zu unterstützen, greift sie sogar im Gegenteil die kurdischen Volksverteidigungseinheiten an. Zwischen den kurdischen Gebieten gibt es immer wieder Landstriche, die vom IS als Korridore genutzt werden. Die Regierungspartei AKP des türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu droht mit Bombardierung, wenn die YPG Gebiete erkämpfen wollen, so dass der Kanton Kobani dann direkt an den von Cizire heranreicht – was notwendig ist, um die Gefahr ständiger IS-Angriffe zu bannen. Das türkische Militär hatte in der Nacht zum 25. Oktober Stellungen der YPG und Wohngebiete beschossen. Beim Angriff auf das Dorf Bubane, den Davutoglu bestätigt hat, wurden zwei Zivilisten verletzt. Wir erwarten, dass die EU und die internationale Staatengemeinschaft die Türkei unter Druck setzen, und nicht einfach nur zuschauen – auch, damit der humanitäre Korridor zustande kommt, der den Wiederaufbau ermöglicht.

Fühlen sich die Kurden von westlichen Staaten verraten?

Ja. Die Türkei hatte ihre Stützpunkte der USA geöffnet, und die haben ihr im Gegenzug die Angriffe auf die PKK durchgehen lassen – womit sie den IS indirekt gestützt haben. In einer Region, in der Ethnien permanent gegeneinander ausgespielt werden, ist das multiethnische Selbstverwaltungsprojekt Kobani ein demokratisches Projekt, das unterstützt werden muss, wenn man Frieden in Syrien will. Die USA und Deutschland verraten ihre eigenen Prinzipien, wenn sie nicht aktiv werden. Bei ihrem letzten Ankara-Besuch gab die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, CDU, ein falsches Signal. In dieser Situation muss Deutschland Druck auf die Türkei ausüben, damit sie ihre Angriffe auf Rojava einstellt – und nicht finanzielle Mittel gewähren. Die UNO muss eingreifen, denn die Kurden sind die einzigen zuverlässigen Partner im Kampf gegen den IS. Sie tun es nicht nur im eigenen Interesse. Wenn die Kurden ihre Rolle als Demokratie- und Friedenskraft wahrnehmen sollen, sollte ihr Modell der selbstverwalteten Kantone international anerkannt werden. Nur so ist Syrien zu demokratisieren.