junge Welt, 03.11.2015

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Türkei wählt den Krieg

AKP erringt absolute Mehrheit bei Parlamentswahlen. Prokurdische HDP wieder im Parlament

Von Nick Brauns

Entgegen allen Vorhersagen errang die islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) bei den türkischen Parlamentswahlen am Sonntag mit 49,2 Prozent der Stimmen erneut die absolute Mehrheit. Im 550köpfigen Parlament stellt die AKP nun wieder 313 Abgeordnete, ausreichend zur Fortsetzung ihrer 13jährigen Alleinregierung, aber noch entfernt von der von Präsident Recep Tayyip Erdogan zur Einführung eines Präsidialregimes ursprünglich anvisierten Zweidrittelmehrheit, die für die entsprechende Verfassungsänderung erforderlich wäre.

In dem Wahlergebnis manifestiere sich der »nationale Wunsch nach Stabilität«, erklärte Erdogan am Wahlabend. Mit dem Beharren auf den Prinzipien von »einer Nation, einer Fahne, einem Heimatland, einem Staat« seien alle internationalen Komplotte gegen die Türkei abgewehrt worden, betonte der Präsident unter Berufung auf das Dogma des türkischen Nationalismus.

Nachdem die AKP im Juni nur noch 41 Prozent der Stimmen erhalten hatte und eine Koalitionsbildung gescheitert war, hatte Erdogan die Neuwahlen angesetzt, um den »Fehler zu korrigieren«. Die Aufkündigung des Friedensprozesses mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Ende Juli zielte darauf, die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) zu schwächen und zugleich Stimmen von der faschistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) zurückzugewinnen.

Erdogans »Strategie der Spannung« ging offensichtlich auf. Mit einem Einbruch der Stimmen für die faschistische Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) um vier Prozentpunkte auf zwölf Prozent honorierten zur AKP übergegangene nationalistische Wähler deren antikurdischen Kriegskurs.

Die kemalistisch-sozialdemokratische Republikanische Volkspartei (CHP) konnte sich als stärkste Oppositionspartei mit 25,5 Prozent nur geringfügig gegenüber ihrem Juni-Ergebnis verbessern. Die HDP – ein Bündnis aus prokurdischen und linken Parteien – kam mit 10,7 Prozent zwar erneut über die Zehnprozenthürde, büßte aber gegenüber den Wahlen im Juni fast 2,5 Prozent der Stimmen ein.

»Wir hatten keine Wahlkampagne. Wir haben nur versucht, unsere Leute vor Massakern zu schützen«, wies der HDP-Kovorsitzende Selahattin Demirtas am Wahlabend auf die »unfairen Bedingungen« hin, unter denen die Partei agieren musste. So hatte die HDP nach den blutigen Anschlägen von unter Polizeiaufsicht agierenden Selbstmordattentätern des »Islamischen Staates« (IS) auf Sozialisten und Kurden in Suruc und Ankara auf Kundgebungen verzichtet. Außerdem wurden HDP-Hochburgen in den kurdischen Landesteilen mit Strafexpeditionen durch Polizeisonderkommandos überzogen.

Bei Massakern und Anschlägen starben nach HDP-Angaben innerhalb von fünf Monaten 258 Zivilisten, darunter 33 Kinder. Mindestens 500 HDP-Mitglieder und Funktionäre wurden verhaftet und rund 200 HDP-Büros von nationalistischen Rollkommandos zerstört.

Aufgrund des türkischen Wahlsystems stellt die HDP, die in zwölf mehrheitlich kurdisch bewohnten Provinzen zur stärksten Kraft wurde, künftig mit 60 Abgeordneten die drittstärkste Parlamentsfraktion vor der MHP mit nur 42 Sitzen. Angesichts dieser Umstände nannte Demirtas das Wahlergebnis der HDP einen »großen Sieg«. »Wäre doch niemand gestorben, wären wir doch eher aus dem Parlament geflogen!« beklagte er zugleich die Opfer, unter denen die Konsolidierung seiner Partei zustande kam.

Noch am Wahlabend griff die Polizei in Diyarbakir Demonstranten vor der HDP-Zentrale mit Wasserwerfern und Gasgranaten an. Bei säkularen Oppositionellen, Angehörigen der alevitischen Minderheit sowie der religiös-konservativen Gülen-Gemeinde herrscht angesichts des erneuten Triumphes der AKP tiefe Resignation. Eine »Nacht der langen Messer« durch Erdogan-Anhänger wird insbesondere gegenüber der oppositionellen Presse befürchtet.

»Fassungslosigkeit« und »Ratlosigkeit« – mit diesen Worten beschrieben Mitglieder einer Wahlbeobachterdelegation aus Köln gegenüber junge Welt die Stimmung in Hakkari. Obwohl die HDP in dieser Bergregion auf sensationelle 86 Prozent der Stimmen kam, herrschte am Wahlabend gespenstische Ruhe in der Provinzhauptstadt.

»Besonders für uns Frauen, die selbst Kinder haben, ist das schrecklich«, schilderte eine etwa 35jährige Aktivistin gegenüber der Delegation ihre Gefühle. »Wir wollten doch unseren Kindern sagen können, dass sie ein Leben in Frieden haben werden.«

Tatsächlich dürften diejenigen AKP-Wähler enttäuscht werden, die sich Erdogans Erpressungspolitik in der Hoffnung auf ein Ende des Krieges gebeugt haben. So hat Ministerpräsident Ahmet Davutoglu ein weiteres Vordringen kurdischer Volksverteidigungseinheiten YPG auf die westlich des Euphrat gelegenen Gebiete in Nordsyrien als rote Linie für ein militärisches Eingreifen der Türkei benannt. Da die Kurden in der Türkei Angriffe auf das Selbstverwaltungsgebiet im Nachbarland wie schon beim Vorgehen gegen die syrische Stadt Kobani vor einem Jahr nicht widerstandslos hinnehmen werden, muss die AKP zur Durchsetzung ihrer außenpolitischen Ziele zugleich den Krieg im eigenen Land intensivieren.

Reaktionen auf AKP-Wahlsieg

Sich selbst auf die Schulter klopfend, begrüßte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan das Wahlergebnis vom Sonntag. Das Votum sei eine »starke Botschaft« an die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans PKK, hieß es in der von der Nachrichtenagentur Anadolu am Montag verbreiteten Erklärung. Nun kann Erdogan sein Ziel angehen, die Türkei in eine nach seinen Wünschen gestaltete Präsidialdiktatur umzuwandeln. Ministerpräsident und AKP-Chef Ahmet Davutoglu kündigte bei seiner Siegesrede im Parteihauptquartier in Ankara an, umgehend einen Entwurf für eine neue Verfassung auszuarbeiten.

Glückwünsche gab es auch aus Brüssel. Vertreter der EU zeigten sich erfreut über den Verlauf der Parlamentswahl in der Türkei. Die hohe Wahlbeteiligung untermauere, dass das türkische Volk die demokratischen Prozesse unterstütze, teilten die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini und der für Nachbarschaftspolitik zuständige Kommissar Johannes Hahn am Montag in Brüssel mit.

Einer der Wahlbeobachter des Europarats, der Schweizer Sozial­demokrat Andreas Gross, kritisierte, dass die Türken zwar die freie Wahl zwischen verschiedenen Parteien gehabt hätten. Von einer »Fairness des Prozesses« könne aber nicht die Rede sein. Seit der Wahl im Juni habe es viel Gewalt gegeben, Journalisten seien eingeschüchtert, Zeitungen und Fernsehsender dichtgemacht worden, kritisierte Gross. Das habe auch zu Selbstzensur geführt. Die Gewalt habe zudem den Wahlkampf behindert. Anders sah dies der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth (SPD). Er sagte dem Sender SWR 2, ihm lägen »keinerlei Informationen« über Wahlmanipulationen vor.

Und wenn in Berlin alles klar ist, ist es das in Brüssel allemal: »Die EU wird mit der zukünftigen Regierung zusammenarbeiten, um die Partnerschaft zwischen der EU und der Türkei weiter zu stärken und die Kooperation in allen Bereichen zum Wohle der Bürger auszubauen«, kommentierten Hahn und Mogherini.

Brüssel braucht Ankara, um die Zuwanderung von Flüchtlingen einzudämmen, und für den Krieg in Syrien. Erdogan will dort den gewählten Präsidenten Baschar Al-Assad stürzen und bedient sich dabei nicht zuletzt bewaffneter Gruppen. Diese gratulierten brav der AKP zum Wahlsieg: Die Türkei sei ein Vorbild für die Region und stehe trotz Drucks von außen und innen fest an der Seite der »syrischen Revolution«, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung verschiedener islamistischer Brigaden. Zu den Unterzeichnern gehört unter anderem die dschihadistische Ahrar Al-Scham. Auch mehrere Brigaden der »Freien Syrischen Armee« gratulierten dem »türkischen Brudervolk« und der AKP.

(AFP/dpa/Reuters/dpa)