Berliner Zeitung, 03.11.2015

Kommentar zum Sieg von Erdogan und der AKP

Die Türkei wird zum Schlüsselland

Von Frank Nordhausen

Erdogan und die AKP müssen nach ihrem Wahlerfolg auch liefern. Viel wird von einem neu zu entwickelnden Verhältnis zur EU abhängen. Ein Kommentar.

Die Türkei hat eine funktionierende Demokratie. Das haben ihre Bürger am Sonntag bei der zweiten Parlamentswahl innerhalb von fünf Monaten in beeindruckender Weise bewiesen. Es ist ein Zeichen demokratischer Reife, dass trotz enormen Drucks und unfairer Wahlkampfbedingungen 48 Prozent der Wähler gegen das System Erdogan gestimmt haben und im Parlament alle wichtigen Strömungen der türkischen Gesellschaft präsent bleiben. Der Wiedereinzug der prokurdischen Linkspartei HDP hat eine verfassungsändernde Parlamentsmehrheit der AKP verhindert und damit die unmittelbare Einführung eines autoritären Präsidialsystems, vielleicht sogar einen Bürgerkrieg im kurdischen Südosten des Landes.

Bei der Juni-Wahl hatten die Wähler für eine Koalitionsregierung gestimmt. Als diese nicht zustande kam, kehrten sie zu dem zurück, was sie kannten und gaben der islamisch-konservativen AKP des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan zum vierten Mal den Regierungsauftrag. Das Ergebnis mag vielen nicht gefallen, aber die Motive der konservativen Wähler sind nur zu verständlich. Bei Befragungen an Wahllokalen sagten viele, sie wünschten sich ein Ende des Chaos, der Unsicherheit und der eskalierenden Gewalt.

In einer Zeit mit furchtbaren Terroranschlägen, einem blutigen Kurdenkonflikt und stotternder Wirtschaft stimmten sie für Stabilität, Kontinuität und Frieden. Dabei war es ihnen egal, wer das Chaos schürte. Selbst wenn sie aus Angst vor Nachteilen für den Fortbestand des Systems Erdogan votierten, das mit Brot und Peitsche, Teilen und Herrschen, Vetternwirtschaft und staatlicher Alimentation, oligarchisch-mafiösen Wirtschaftsstrukturen und der Einschränkung bürgerlicher Freiheiten regiert – wer wollte es ihnen verdenken?

Jetzt müssen Erdogan und die AKP auch liefern

Aber jetzt müssen Erdogan und die AKP auch liefern. Der Wählerauftrag, Kontinuität, Stabilität und Frieden zu schaffen, obliegt ab sofort wieder ihrer alleinigen Verantwortung. Fehler können sie keinem Koalitionspartner anlasten. Auch ihre Wähler wollen gesellschaftliche Versöhnung; man wird sehen, ob Erdogan dazu in der Lage ist. Die kränkelnde Wirtschaft muss wieder auf Kurs gebracht werden. Dazu braucht er nach dem teilweisen Ausfall der Märkte im Nahen Osten und in Russland die Europäische Union – die die Türkei gerade zum Schlüsselstaat in der Flüchtlingskrise erklärt und sich damit der Gunst Ankaras ausliefert. Schon bald dürfte sich zeigen, was passiert, wenn man Erdogan den Schlüssel in die Hand drückt.

Der türkische Präsident könnte sein früheres Ziel eines EU-Beitritts bis 2023, dem hundertsten Republikfeiertag, wieder ins Visier nehmen. Als Herr über die Regulierung der Flüchtlingsströme kann er die Europäer für etwaiges Fehlverhalten bestrafen und für ein Entgegenkommen bei der Öffnung neuer Beitrittskapitel belohnen. Schon jetzt knüpft das Band der Flüchtlinge die Türkei enger an die Union.
Für Erdogan wäre der EU-Beitritt ein Durchbruch

Aber Erdogan hat einen weiteren Trumpf in der Hand: die Zypernfrage. Die harte Haltung Griechenlands gegen einen Kompromiss zur Wiedervereinigung der geteilten Insel ist aufgeweicht, und Erdogan spricht ständig von der Notwendigkeit einer Lösung. Schneller als die Brüsseler Strategen denken, könnte Zypern wieder geeint sein, vielleicht schon im nächsten Jahr. Falls die Türkei wirklich in die EU strebt und das Hindernis Zypern beseitigt, das Angela Merkel regelmäßig als größte Hürde für Beitrittsverhandlungen bezeichnet, gibt es keinen stichhaltigen Grund mehr, von „privilegierter Partnerschaft“ zu sprechen.

Für Erdogan wäre der EU-Beitritt ein Durchbruch, den er innenpolitisch gegen die Opposition ausnutzen kann, um seine Herrschaft im Superwahljahr 2019 zu zementieren. Denn dann finden in kurzem Abstand Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei sowie die Wahlen zum Europaparlament statt.

Die kommenden vier Jahre werden deshalb auch Schlüsseljahre für Europa. Wird die EU Bürgerrechte, Pressefreiheit und die Aufweichung rechtsstaatlicher Regeln in der Türkei aus strategischen Interessen ignorieren? Der eilfertige Merkel-Besuch in der Türkei kurz vor der Wahl und die Zurückhaltung des neuen Fortschrittsberichts verheißen nichts Gutes. 2005 stoppten Berlin, Paris und Brüssel den forcierten Beitritt einer Türkei, die sich demokratischen Reformen öffnete und europäische Prinzipien begrüßte. Jetzt käme eine autoritär verfasste Türkei, die mehr der „gelenkten Demokratie“ Wladimir Putins ähnelt, und Europa heißt sie willkommen. Das ist paradox. Gerade weil es richtig ist, dass die Türkei ein Schlüsselland ist und deshalb zu Europa gehört, darf die EU ihre Grundwerte nicht auf dem Altar der Flüchtlingspolitik opfern.

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