FAZ, 02.11.2015

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Nach der Türkei-Wahl

Ein Gewinner und viele Verlierer

Einen so hohen Sieg der AKP hatte kaum jemand für möglich gehalten. Vorwürfe von Wahlbetrug sind aber deplaziert, denn den hatte Erdogan gar nicht nötig. Das Problem waren die Vorkomnisse vor der Wahl.
02.11.2015, von Michael Martens, Athen

Am Tag danach war die Lira die große Gewinnerin. Die türkische Landeswährung gewann am Montag im Vergleich zum Dollar so viel an Wert wie seit sieben Jahren nicht mehr. Zuletzt hatte sie im November 2008 an einem einzigen Tag so stark zugelegt wie nun nach dem deutlichen Wahlsieg der „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und seinem Regierungschef Ahmet Davutoglu.

Michael Martens Autor: Michael Martens, Korrespondent für südosteuropäische Länder mit Sitz in Athen. Folgen:

Die Aussicht, dass die AKP künftig wieder die absolute Mehrheit der Mandate im Parlament haben wird und die Türkei allein regieren kann, beflügelte die Istanbuler Börse. Fast alle Werte legten deutlich zu – mit einigen wenigen, bezeichnenden Ausnahmen. Die Anteile von drei zur Ipek Holding gehörenden Unternehmen und auch die Aktien einer zur Dogan-Gruppe gehörenden Gesellschaft verloren an Wert.

Kein Wunder: Beide Konzerne haben den Zorn Erdogans auf sich gezogen, und das ist in der Türkei nicht gut fürs Geschäft. Der Ipek-Konzern, der sich unter anderem Tageszeitungen und Fernsehsender leistet, fiel bei Erdogan in Ungnade, weil ihr Chef der Bewegung des im amerikanischen Exil lebenden türkischen Predigers Fethullah Gülen nahesteht. Gülen aber ist nach den Worten des türkischen Präsidenten neben der kurdischen Terrororganisation PKK der übelste Feind der Türkei. Das lässt Erdogan immer unverblümter alle Unternehmer spüren, die dem Prediger und seiner Bewegung ergeben sind.

Nachdem Finanzbeamte in den Büchern der Holding trotz intensiver Suche bei mehreren Razzien offenbar keine Anzeichen für Steuerhinterziehung hatten finden können, wurden die regierungskritischen Ipek-Medienunternehmen im Handstreich und mit Polizeigewalt dennoch unter (vermeintlich) treuhänderische Aufsicht gestellt. Eine der Begründungen dafür war besonders bemerkenswert: Ein derart großer Konzern könne gar nicht so saubere Bücher haben – das sei verdächtig. Nun haben Erdogans ergebene Manager dort das Sagen.

Mit so einem Sieg hatte (fast) niemand gerechnet

Bei den ebenfalls regierungskritischen Zeitungen und Sendern der Dogan-Gruppe ist es noch nicht so weit, könnte aber so weit kommen. Erdogan hat Dogan und dessen Medien mehrfach persönlich angegriffen, und einige rhetorisch für das Grobe zuständige AKP-Politiker und Sympathisanten kündigten bereits an, dass man nach der Ipek-Holding auch mit anderen „verräterischen“ Medienhäusern aufräumen werde. Deshalb hielten es am Montag viele Aktionäre für ratsam, ihre Anteile an Dogan-Unternehmen zu verkaufen.

Insgesamt aber war der Markt durchaus zufrieden mit dem Wahlausgang. Dass die AKP bei der zweiten Parlamentswahl in diesem Jahr wie immer seit ihrer Gründung vor mehr als einem Jahrzehnt stärkste Kraft werden würde, hatte zwar schon vor der Abstimmung niemand bezweifelt, und auch leichte Zugewinne in der Wählergunst im Vergleich zum Ergebnis der Wahl im Juni, als Erdogans Partei erstmals die absolute Mehrheit der Mandate verfehlt hatte, waren von den meisten Umfrageinstituten prognostiziert worden.

Doch mit einem Sieg der AKP in dieser Höhe hatte (fast) niemand gerechnet: Mehr als 49,3 Prozent der Stimmen bedeuten das zweitbeste Resultat in der Geschichte der Partei – und das alles nach Monaten der Unsicherheit, nach dem Wiederaufflammen der Kämpfe gegen die PKK, nach dem Terroranschlag von Ankara sowie in einem wirtschaftlichen Umfeld, das viel von der Dynamik der frühen Regierungsjahre der AKP eingebüßt hat.

Umfrageagenturen sind die Verlierer

Die Republikanische Volkspartei (CHP) konnte ihre Position als größte Kraft der Opposition zwar halten und ihr Ergebnis im Vergleich zum Juni noch einmal minimal verbessern, auf nun 25,4 Prozent der Stimmen. Gefährlich werden kann sie der AKP damit aber nicht. Die großen Verlierer der Wahl waren die „Partei der nationalistischen Bewegung“ (MHP) sowie die vor allem von Kurden und einem Teil der türkischen Linken gewählte „Demokratische Partei der Völker“ (HDP). Die türkischen Ultranationalisten kamen auf knapp 12 Prozent der Stimmen und verloren damit mehr als vier Prozentpunkte im Vergleich zum Juni. Die „Kurdenpartei“ HDP wäre am Sonntag sogar fast an der Zehnprozenthürde gescheitert. Zwar erhielt sie am Ende doch noch das Vertrauen von 10,8 Prozent der Wähler, doch im Juni waren es noch mehr als 13 Prozent gewesen. Das Fazit der zweiten türkischen Parlamentswahl im Jahr 2015 lautete daher: Erdogan hat gewonnen, alle anderen haben verloren.

Zu den Verlierern wurden am Montag allgemein auch die Umfrageagenturen gezählt. So heißt es in einer Wahlanalyse des Ankaraner Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung: „Insgesamt verlief die Wahl ohne größere Vorfälle. Wahlmanipulationen sind nicht bekanntgeworden, ebenso wenig wie Unregelmäßigkeiten. Verloren haben einmal mehr die diversen Umfrageinstitute, die mehrheitlich ein ähnliches Wahlergebnis wie im Juni prognostiziert hatten.“

Das ist nicht falsch, doch ragt aus den demoskopischen Fehlprognosen eine Ausnahme heraus, die zeigt, dass eine weitgehend korrekte Einschätzung des zu erwartenden Wahlergebnisses nicht unmöglich war: Das Istanbuler Meinungsforschungsinstitut A&G, benannt nach den Initialen seines Besitzers und Direktors Adil Gür, hat den deutlichen Sieg der AKP kommen sehen. In der letzten von A&G vor der Wahl veröffentlichten Umfrage prognostizierte die Agentur Ende Oktober, dass die AKP 47,2 Prozent der Stimmen und eine absolute Mehrheit der Mandate erhalten werde.

Das Resultat der CHP sagte A&G sogar fast auf die Stelle hinter dem Komma genau voraus – 25,3 Prozent waren es in der Prognose, 25,4 in Wirklichkeit. Adil Gür, ein Jurist, der vor drei Jahrzehnten als Student über Nebenjobs zur Demoskopie kam, hatte im Sommer 2013 schon die Folgen der Proteste im Istanbuler Gezi-Park richtig gelesen und gegen die vor allem im Westen übliche romantische Verklärung dieser Proteste korrekt prognostiziert, dass sie der AKP kaum schaden würden.

Wahltag sei „organisiert und effektiv“ verlaufen

Wie also lässt sich der neuerliche Erfolg der AKP erklären? Von der HDP und ihrem Umfeld war bereits am Wahltag zu hören, es habe massive Wahlfälschungen gegeben. Am Montag wiederholten einige Politiker und Sympathisanten der Bewegung diese Vorwürfe, was sie nicht richtiger machte. In der Türkei ist nicht der Wahltag selbst das Problem, sondern der Wahlprozess, also die Zeit davor und danach. Am Ablauf der eigentlichen Abstimmung hatten ausländische und unabhängige einheimische Wahlbeobachter wie üblich nichts Gravierendes auszusetzen.

Eine Delegation der parlamentarischen Versammlung des Europarats sowie die Angehörigen der OSZE-Wahlbeobachtungsmission Odihr teilten am Montag mit, die Wahlen „sind von der Wahlverwaltung gut organisiert worden, und der Hohe Wahlrat hat alle Fristen eingehalten“. Die Registrierung der Kandidaten habe funktioniert, die Bürger hätten eine „echte Wahl“ treffen können. Der Wahltag sei „grundsätzlich friedlich“ verlaufen, und in den ausgewählten Wahlstationen sei die Abstimmung, abgesehen von kleineren Zwischenfällen, „organisiert und effektiv“ verlaufen. „Das Prozedere der Auszählung wurde als transparent und gut organisiert bewertet“, heißt es in der Erklärung der Beobachter weiter.

Die wahren Verzerrungen finden vor der Wahl statt

Der Leiter der OSZE-Wahlbeobachtungsmission, Geert-Hinrich Ahrens, ein pensionierter deutscher Diplomat mit umfassender Balkanerfahrung, der sich in Methoden des Wahlbetrugs gut auskennt, hob hervor, dass es „keine Schwarzweißbewertung“ der türkischen Verhältnisse geben dürfe. Es habe „Mängel, aber eben auch positive Elemente gegeben“.

Die türkische Initiative „Öy ve Ötesi“ („Wahl und mehr“), die etwa 60.000 geschulte Freiwillige mobilisiert und damit einen weitaus genaueren Überblick über das Geschehen hatte als die ausländischen Wahlbeobachter, erhob ebenfalls keine grundlegenden Einwände gegen den Ablauf der Abstimmung. Wer versucht, den Erfolg der AKP mit Stimmenklau zu erklären, macht es sich daher zu einfach. Die wahren Verzerrungen in Erdogans Reich finden vor der Wahl statt, das haben auch die europäischen Beobachter in ihrer Einschätzung am Montag bestätigt.

Die Einschränkung der freien Berichterstattung, die Sperrung oppositioneller Internetseiten, die Beschlagnahme ganzer Medienhäuser, die Bevorzugung der AKP in den staatlich kontrollierten Fernsehsendern, die gewaltsamen Übergriffe gegen (oppositionelle) Politiker und Parteibüros „haben die Möglichkeiten der Kandidaten behindert, ihren Wahlkampf frei zu führen“, heißt es in der Stellungnahme. Die rapide schwindende Möglichkeit, sich über unabhängige Medien zu informieren, „und allgemeine Einschränkungen der Medienfreiheit“ gäben Anlass zu ernsthafter Sorge. Der Bericht erwähnt auch ausdrücklich die Angriffe gegen und Verhaftungen von HDP-Politikern: „Leider war die Kampagne für diese Wahlen von Ungerechtigkeit und in einem ernsthaften Ausmaß von Angst gekennzeichnet.“

Enttäuschung bei konservativen kurdischen Wählern

Doch die AKP hat auch davon profitiert, dass sich die Wähler in Massen von der türkisch-nationalistischen MHP und der kurdisch-nationalistischen HDP abgewandt haben. Viele frühere MHP-Wähler konnten Erdogan und Davutoglu durch die Bombardierung der PKK-Stellungen im Nordirak und durch ihre aggressive Rhetorik in der Kurdenfrage auf ihre Seiten ziehen. Noch bemerkenswerter sind aber die Gewinne der AKP in den kurdisch dominierten Provinzen Südostanatoliens und die gleichzeitigen Verluste der HDP in nahezu allen ihren Hochburgen. Zwar bleibt die HDP in den kurdischen Provinzen im Südosten die stärkste politische Kraft vor der AKP, doch sie musste mit einer Ausnahme überall Einbußen hinnehmen. Während die AKP im Südosten etwa neun Prozentpunkte hinzugewann, verlor die HDP in diesen Gebieten mehr als sechs Prozentpunkte. Nachdem Ankara die türkische Armee wochenlang gegen die PKK hatte kämpfen lassen, erhielt die HDP in 13 von 14 südostanatolischen Provinzen weniger Stimmen als im Juni. In ihren Hochburgen wie Diyarbakir (minus 6 Prozentpunkte), Kars (minus 9,3), Bitlis (minus 11,9) oder Van (minus 8,8) war das Bild überall ähnlich.

Wer in den vergangenen Wochen in Südostanatolien mit kurdischen Wählern gesprochen hat, wird davon allerdings nicht überrascht gewesen sein. Vor allem konservative kurdische Wähler zeigten sich enttäuscht davon, dass die HDP sich nicht eindeutig vom Terrorismus der PKK distanzierte. Sie hatten die HDP im Juni in der Hoffnung gewählt, dass sie sich in Ankara für eine politische Lösung der Kurdenfrage einsetzen und die PKK klar in die Schranken weisen werde. Sie haben genug von dem jahrzehntelangen Krieg zwischen der PKK und der türkischen Armee, der auf ihrem Rücken ausgetragen wird und den niemand gewinnen kann.

Dass die HDP die PKK nicht davon abhalten konnte, Anschläge zu verüben, ist der Partei zwar nicht anzulasten, denn sie hat keine Kontrolle über die Krieger in den Bergen. Dass sie sich von diesen Anschlägen nicht unmissverständlich distanziert hat, haben ihr viele Kurden jedoch übelgenommen. Dafür hat die Partei am Sonntag einen Denkzettel bekommen, der sie fast den Einzug in das Parlament gekostet hätte.