Neue Zürcher Zeitung, 02.11.2015

http://www.nzz.ch/international/europa/kaum-kritik-an-erdogan-1.18640020

EU will Flüchtlings-Kooperation nicht gefährden

Kaum Kritik an Erdogan

Die EU hat sich nur vorsichtig zu den Wahlen in der Türkei geäussert und Kritik an Erdogan vermieden. Was der Wahlsieg Erdogans für die Kooperation in der Flüchtlingskrise bedeutet, ist offen.

von Niklaus Nuspliger, Brüssel

Die EU und die Nato haben am Montag zurückhaltend beziehungsweise gar nicht auf den Wahlausgang in der Türkei reagiert. Für das Verteidigungsbündnis, das sich kaum je zu innenpolitischen Vorgängen in Mitgliedstaaten äussert, dürften sich die Konsequenzen des klaren Siegs von Präsident Recep Tayyip Erdogans AKP in Grenzen halten. Die Alliierten hatten der Türkei bereits im Juli den Rücken gestärkt, als Erdogan Stellungen des Islamischen Staates und der Kurden zu bombardieren begann. Schon damals sah man von Kritik am Vorgehen gegen die Kurden ab.

Zurückhaltend liest sich die offizielle Reaktion der EU. In einem Communiqué lobten die EU-Aussenbeauftragte Federica Mogherini und EU-Nachbarschafts-Kommissar Johannes Hahn die hohe Wahlbeteiligung, die den Willen der türkischen Bevölkerung zu demokratischen Prozessen verdeutlicht habe. Die EU werde mit der künftigen Regierung in allen Bereichen zusammenarbeiten. Zur Frage, ob die Wahl angesichts des Kurdenkonflikts und der Repression gegen kritische Medien frei und fair verlaufen sei, nahm die EU ebenso wenig Stellung wie zur Gefahr eines zunehmend autoritär agierenden Staates.

Die Zurückhaltung hat Gründe. Die EU sucht in der Flüchtlingskrise die Kooperation mit der Türkei, welche die Meeresgrenze zu Griechenland sichern soll. Dazu wird über einen Aktionsplan verhandelt, der Milliardenzahlungen an die Türkei vorsieht. Zudem fordert Ankara Reisefreiheit für Türken bei Reisen in die EU sowie die Eröffnung weiterer Verhandlungskapitel mit Blick auf einen EU-Beitritt. Um die Kooperation mit Erdogan nicht zu gefährden, verschob die EU-Kommission die Publikation eines Berichts über die Einhaltung von EU-Normen in der Türkei bis nach den Wahlen. Im Bericht wird sie zu den Eingriffen in die Pressefreiheit und in die Unabhängigkeit der Justiz Stellung nehmen. EU-Parlamentarier aus allen Fraktionen kritisierten diese Zurückhaltung und den Wahlkampf der AKP, die auf Einschüchterung und Angstmacherei gesetzt habe.

Offen ist, was der Wahlsieg von Erdogans AKP für die Kooperation zwischen Brüssel und Ankara in der Flüchtlingskrise bedeutet. Vorsichtig optimistisch äusserte sich der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament, Elmar Brok, gegenüber der Nachrichtenagentur DPA. Jetzt seien die Voraussetzungen dafür gegeben, auf einer stabilen Grundlage Gespräche über die Flüchtlingskrise und den Syrien-Konflikt zu führen. Allerdings hatten EU-Diplomaten vor der Wahl die Hoffnung geäussert, dass die AKP auf einen Koalitionspartner angewiesen sein würde. Nun besteht die Gefahr, dass Erdogan gegenüber der EU sowie in den Bemühungen zur Lösung des Syrien-Konflikts noch fordernder auftreten wird.