Süddeutsche Zeitung, 02.11.2015 Erdoğan erntet die Früchte der Angst Die AKP gewinnt in der Türkei
die absolute Mehrheit zurück. Sie profitiert von einem Klima der Unsicherheit,
das sie selbst geschaffen hat. Recep Tayyip Erdoğan hat sich das Land zurückerobert, das er ohnehin als sein Eigentum begreift. Die Türken haben seine AKP-Partei bei der Parlamentswahl am Sonntag wieder mit einer absoluten Mehrheit ausgestattet. Dies ist eine Machtfülle, von der man schon nicht mehr glaubte, dass die Partei sie noch einmal erreichen würde. Wie sollte eine Politik mehrheitsfähig sein, bei der Kritiker verfolgt werden - von Staatsanwälten und von einem wütenden Mob auf der Straße? In der Krieg nur um des eigenen Machterhalts willen geführt wird? Vor fünf Monaten hatten die Bürger Erdoğans islamisch-konservativer AKP bei einer Wahl erstmals seit 13 Jahren die absolute Mehrheit entrissen. Ihnen war der Machthunger des Präsidenten suspekt geworden. Nach dieser Wahl fragt man sich jetzt: Wer, wenn nicht der Wähler, ist überhaupt in der Lage, Erdoğan zu stoppen? Das Ergebnis vom Sonntag verstört. Nicht deshalb, weil man einer Partei, die hart arbeitet, den Erfolg missgönnt. Es verstört vielmehr, weil die AKP ihren Sieg nicht der Zufriedenheit der Wähler zu verdanken hat, sondern der Angst. Als die Bürger bei der vorangegangenen Wahl am 7. Juni einmal nicht so wollten wie Erdoğan, nahm der Staatspräsident sein Land quasi in den Schwitzkasten. Er und seine AKP schufen ein Klima der Gewalt und des Schreckens. Erdoğan kündigte den Friedensprozess mit den Kurden auf. Danach eskalierte die Lage. Anhänger der Terrormiliz Islamischer Staat trugen den Terror an den Sicherheitsbehörden vorbei bis in die Hauptstadt. AKP-Chef Ahmet Davutoğlu drohte im Wahlkampf: Wenn die Leute nicht seine Partei wählten, kämen die weißen Autos zurück, jene Fahrzeuge, in denen in den düsteren Neunzigerjahren Menschen verschleppt wurden. Wer sich davon nicht beeindrucken ließ, machte sich Sorgen wegen der einbrechenden Wirtschaft. Präsident Erdoğan triumphiert, weil die Bürger verunsichert sind Dass diese Gewalt, diese Unsicherheit in jene Monate fiel, in der die AKP das Land nicht alleine regierte, spielte der Partei in die Hände. Nach Monaten der Eskalation war der Wunsch nach Stabilität so groß, dass die Wähler das Schicksal des Landes wieder in die Hand jener Partei legte, die - solange unangetastet an der Macht - eben auch für Ruhe und Sicherheit sorgen kann. Unter der AKP erlebte die Türkei bis vor wenigen Monaten innenpolitisch die stabilsten Jahre. Koalitionsregierungen verbinden die Bürger aus den Erfahrungen der Vergangenheit heraus nur mit Streit und Stillstand. Im Jahr 2015 trugen die Oppositionsparteien nichts dazu bei, an diesem Bild etwas zu ändern. Die Ultranationalisten von der MHP hatten ebenso wie die pro-kurdische Partei HDP früh ein Regierungsbündnis mit der AKP ausgeschlossen. Lieber wollten sie in der Opposition bleiben, als mit der Partei zusammenzuarbeiten, die sie am schärfsten bekämpften. Nur die CHP, die alte Atatürk-Partei, wollte wirklich eine Koalition - scheiterte aber am Unwillen der AKP. Rechnerisch hätten die Oppositionsparteien nach der Wahl im Juni sogar eine Regierung ohne die AKP bilden können. Wer so leichtfertig Machtoptionen ausschlägt, muss sich hinterher nicht wundern, wenn bei den Wählern ein fataler Eindruck entsteht, der sie in die Arme der AKP zurücktreibt. Die MHP verlor nun ein Viertel ihrer Wähler. Die HDP hätte es fast nicht mehr ins Parlament geschafft. Was aus der Türkei wird, liegt nun allein in Erdoğans Händen Im Lichte westlichen Demokratieverständnisses war der Sonntag sicherlich ein schwarzer Tag für das Land. Ob die Zukunft auch so düster sein muss, ist nicht gesagt. Was aus dem Land wird, liegt nun allein in den Händen von Erdoğan. Das Wahlergebnis bürdet ihm auch eine große Verantwortung auf. Dazu gehört, jetzt keinen weiteren Rachefeldzug in der Verwaltung, in den Medienhäusern des Landes zu starten und keine Jagd auf die Leute zu machen, die gegen ihn waren. So weiter machen wie bisher, kann er kaum. Die Spannungen drohen das Land zu zerreißen. Deshalb muss der Präsident selbst Interesse daran haben, im Kurdenkonflikt, wenn nicht sofort, so doch in absehbarer Zeit, wieder zu verhandeln. Auch ohne die von ihm angestrebte Verfassungsänderung hat Erdoğan seine Macht gerade zementiert. Er kann ein hemmungsloser Pragmatiker sein, wenn er sich davon einen Nutzen verspricht. Frieden mit den Kurden wäre ein historisches Vermächtnis. Die Flüchtlingskrise eröffnet ihm die Chance, sein Land auf Augenhöhe an die Europäische Union heranzuführen. Mit mehr als zwei Millionen Flüchtlingen im Land fällt der Türkei eine Schlüsselrolle zu. Auch wenn das auf den ersten Blick nicht so aussieht: Mit dem Wahlsieg hat auch Erdoğan eine Chance bekommen, sich noch mal zu ändern. An die Macht klammern muss er sich jedenfalls im Moment nicht. URL: http://www.sueddeutsche.de/politik/tuerkei-erdoan-erntet-die-fruechte-der-angst-1.2718792
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