Süddeutsche Zeitung, 02.11.2015 Wahlen in der Türkei Die Türkei wählt frei - aber nicht fair Präsident Erdoğan ist am Ziel:
Seine AKP hat wieder die absolute Mehrheit. Der Weg, den er dorthin eingeschlagen
hat, verheißt wenig Gutes für die Türkei. Die meisten Türkei-Kenner gingen bis kurz vor der Wahl davon aus, dass sich die Ergebnisse vom Juni diesen Jahres wiederholen würden. Auch viele Umfragen deuteten darauf hin. Damals hatte die Regierungspartei zum ersten Mal seit 2002 die absolute Mehrheit verfehlt. Dafür hatte die prokurdische HDP im Juni mit 13 Prozent einen Überraschungserfolg gefeiert. Präsident Erdoğan und die regierende AKP sahen sich gezwungen, Koalitionsverhandlungen aufzunehmen. Doch Erdoğan, so der Vorwurf seiner Gegner, wollte die Macht nicht teilen: Nach langen Wochen der Unsicherheit habe er die Koalitionsverhandlungen absichtlich scheitern lassen. Danach kündigte der Präsident Neuwahlen an und sprach davon, die Wähler könnten ihren "Fehler" nun korrigieren. Nach der Juni-Wahl flammte außerdem der Konflikt mit der kurdischen PKK wieder auf, nachdem bis in den Sommer noch ein Frieden greifbar schien. Fast täglich bombardierte das türkische Militär PKK-Stellungen, außerdem griff man die kurdischen Kämpfer in Syrien an, die dort der Terrormiliz IS trotzten. Die PKK tötete etliche Sicherheitskräfte. Die Gewalt könnte Erdoğan genutzt haben. Weil es ihm gelang, die Schuld dafür allein den Kurden zuzuschieben. Immer wieder rückte er die Kurdenpartei HDP in die Nähe der PKK, obwohl diese sich von der Gewalt distanzierte. Nun scheinen viele Türken vor allem eins zu wollen: Eine Rückkehr zu mehr Sicherheit im Land. Erdoğan hat es geschafft, sich selbst als Garant dafür zu profilieren. "Der AKP ist es gelungen, die Wähler davon zu überzeugen, dass es im besten Interesse der Türkei ist, zu einer Einparteienregierung zurückzukehren", sagt auch der Türkei-Experte Aaron Stein vom Atlantic Council in Washington. Ein weiterer Grund dürfte dazu beigetragen haben, dass Erdoğan nun wieder alleine regieren kann: Die nationalistische MHP und die prokurdische HDP hatten eine Koalition mit der AKP gleich nach der Wahl strikt ausgeschlossen. Mit der kemalistischen CHP gab es zwar Verhandlungen, doch diese scheiterten. Gleichzeitig konnten sich die drei Oppositionsparteien auch untereinander nicht zu Gesprächen durchringen. Zu groß waren die weltanschaulichen Differenzen. Mit dem jetzigen Ergebnis haben die Wähler womöglich auch diese Inflexibilität abgestraft. Waren die Wahlen fair? Andreas Gross, Präsident der Ad-hoc-Kommission des Europarates zur Wahlbeobachtung in der Türkei, bringt die Antwort auf eine griffige Formel: Frei ja, fair nein. Zwar sei die Abstimmung in dem Sinne frei gewesen, dass die Menschen zwischen verschiedenen Parteien hätten wählen können, sagte der Schweizer Sozialdemokrat zu Deutschlandradio Kultur. Von "Fairness" könne aber nicht die Rede sein. Zu groß seien die Repressalien gegenüber der Opposition gewesen, zu drastisch die Maßnahmen, mit denen Präsident Erdoğan und seine AKP die kritischen Medien des Landes auf Linie brachten. Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) kritisierte die Gewalt im Wahlkampf. Der Ko-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş, sagte am Sonntagabend, von einer gleichberechtigten Wahl könne keine Rede sein. Wegen der Angriffe und Anschläge auf die HDP habe die Partei keinen Wahlkampf führen können. Er kritisierte die "Massakerpolitik" der politischen Führung in Ankara. Immer wieder waren während der vergangenen Monate HDP-Büros in Flammen aufgegangen. Nach zwei Attentaten in Suruç und Ankara, bei denen viele HDP-Anhänger ums Leben kamen, traute sich die Partei nicht mehr, überhaupt noch politische Kundgebungen zu veranstalten. Hinzu kommt die erhebliche Einschüchterung der regierungskritischen Presse. Vier Tage vor der Wahl stürmten türkische Sicherheitskräfte die Redaktionsräume der türkischen Mediengruppe Koza İpek. Am vergangenen Freitag waren deren Publikationen dann stramm auf Linie: Die Zeitung Bugün erschien mit einem staatstragenden Foto von Erdoğan auf der Titelseite. Die Millet zeigte Premierminister Davutoğlu, der weiße Tauben mit einer "brüderlichen Botschaft" in den Himmel steigen ließ. Auch wenn die AKP bei der Wahl nicht betrogen hat, sind doch die Umstände, die dieses Ergebnis hervorgebracht haben, fragwürdig. Erdoğan galt einst als der Politiker, der den jahrzehntealten Bürgerkrieg beilegen könnte. Noch bis in den Sommer sah viel danach aus: Die AKP verhandelte mit der PKK - auch gegen den Widerstand der Nationalisten im Land. Im Februar waren die Verhandlungsparteien sogar mit einer gemeinsamen Erklärung vor die Presse getreten, wie der Frieden zu erreichen sei. Doch seit der Wahl scheint dieser in weite Ferne gerückt. Die Opposition wirft der AKP vor, den Konflikt für ihren Machterhalt zu instrumentalisieren. So kann sich Erdoğan als Garant für Stabilität profilieren. Doch der türkische Präsident ist auch Pragmatiker - er weiß, dass das Land Frieden braucht. Nicht nur, damit die Wirtschaft stabil bleibt. Sondern auch, damit die Türkei nicht noch weiter in den syrischen Bürgerkrieg hineingezogen wird. Und: Wenn er ein Friedensabkommen aushandeln kann, so würde dies sein politisches Erbe sichern. Er würde als der Politiker in die Geschichte eingehen, dem es gelungen ist, das jahrelange Blutvergießen zu beenden. Ebenso unsicher ist allerdings, ob die PKK bereit wäre, sich auf einen neuerlichen Friedensversuch einzulassen. Durch die Strategie der Eskalation hat die AKP hart erarbeitetes Vertrauen zerstört. Es wird dauern, bis es wiederhergestellt ist. Trotzdem dürfte auch die PKK Interesse an einem Frieden haben. Durch den Bürgerkrieg in Syrien gibt es nun noch eine zweite Front mit dem IS. Die PKK könnte deshalb einen Vorteil darin sehen, ihre Energien auf einen Konflikt zu beschränken. Erste Zeichen in diese Richtung gab es bereits: Anfang Oktober hatte Kommandeur Murat Karayilan einen einseitigen Waffenstillstand angekündigt. Was bedeutet das Wahlergebnis für die Beziehungen mit der EU? In Brüssel betrachtet man das türkische Wahlergebnis mit gemischten Gefühlen. Einerseits werden viele EU-Politiker froh sein, dass nun wieder etwas mehr Stabilität einkehren könnte - andererseits dürfte man sich auch in Brüssel fragen, zu welchem Preis das geschieht. Die EU befindet sich in einer schwierigen Lage. Präsident Erdoğan hat im Wahlkampf demokratische Grundwerte verletzt, für die die EU steht. Doch man tut sich in Brüssel schwer, die Türkei allzu sehr zu vergrämen. Denn die hält einen der Schlüssel in der Hand, mit dem die europäische Flüchtlingskrise gelöst werden könnte. Erst kürzlich ist Bundeskanzlerin Merkel nach Ankara gereist, um Präsident Erdoğan davon zu überzeugen, abgeschobene Flüchtlinge, die über die Türkei nach Europa kommen, wieder zurückzunehmen. Außerdem wollte sie erreichen, dass Ankara mehr dafür tut, dass die Flüchtlinge die Türkei gar nicht erst verlassen. Im Gegenzug erhielt Erdoğan Finanzhilfen und Visa-Erleichterungen für türkische Staatsbürger, sowie Unterstützung bei den EU-Beitrittsverhandlungen. In Brüssel gibt man ihm all das wohl nicht gern, einen Weg daran vorbei kennt aber auch niemand. Der konservative Europa-Politiker Elmar Brok brachte das Gefühl auf den Punkt. "Wir werden die Krise nicht ohne die Türkei bewältigen können. Und deswegen sitzt Erdoğan jetzt am längeren Hebel", sagte Brok am Montagmorgen im RBB-Inforadio. "Viel wird jetzt von der Gnade Erdoğans abhängen." Ein Hinweis darauf, wie groß diese Abhängigkeit tatsächlich sein dürfte, ist auch, dass die EU einen kritischen Bericht zu Menschenrechtsverletzungen in der Türkei bis nach der gestrigen Wahl zurückgehalten haben soll. Das zumindest behauptet die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Kritiker sprachen deshalb bereits von einem "schmutzigen Deal", den die EU mit der AKP ausgehandelt haben soll, um deren Wahlkampf nicht zu schaden. In Brüssel wies man diese Vorwürfe zurück. Die Kommission sei derzeit rund um die Uhr mit der Bewältigung der Flüchtlingskrise beschäftigt, sagte ein EU-Sprecher. Kommissionspräsident Juncker werde einen angemessenen Zeitpunkt für die Veröffentlichung des sogenannten Fortschrittsberichts wählen. Dass man dem Wahlsieg der AKP auch in Brüssel nicht allzu viel Positives abgewinnen konnte, wurde in den ersten Reaktionen am Montag deutlich. Immerhin eine Sache konnte man in Brüssel loben: Die hohe Wahlbeteiligung von mehr als 85 Prozent. Aber: In der Türkei gibt es eine Wahlpflicht. Wer seine Stimme nicht abgibt, muss ein Bußgeld zahlen. Wird die Türkei jetzt autoritärer? Bereits jetzt werden in den Land Kritiker regelmäßig ins Gefängnis geworfen. Kurz vor der Wahl übernahm der Staat vor laufender Kamera die Kontrolle über kritische Medien. Eine ganze Riege hochrangiger Politiker ist der Korruption angeklagt, ohne dass sie ernsthafte Untersuchungen zu befürchten hätten. Nach diesem Ergebnis gibt es nicht einmal mehr die Möglichkeit, dass ein Koalitionspartner eine gewisse Kontrolle über die AKP ausübt. Ein solcher hätte im Zweifel damit drohen können, die Regierung auseinanderbrechen zu lassen. Stattdessen bleibt nicht mehr als die vage Hoffnung, dass Erdoğan sich der Verantwortung bewusst ist, die dieses Wahlergebnis in einer so angespannten Situation mit sich bringt und sich von selbst an die Spielregeln hält. URL: http://www.sueddeutsche.de/politik/wahlen-in-der-tuerkei-die-tuerkei-waehlt-frei-aber-nicht-fair-1.2718870
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