junge Welt, 01.11.2015

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»Verfolgung hat strategische Züge«

Parlamentswahl in der Türkei: Prokurdischer HDP wird offen gedroht, türkischen Staatsbürgern im Irak wird die Stimmabgabe verwehrt. Ein Gespräch mit Silan Eminoglu

Von Interview: Lea Frings, Erbil

Silan Eminoglu ist Sprecherin der irakischen Vertretung der Demokratischen Partei der Völker (HDP)
Nach ihrem Erfolg im Juni ist die HDP in der Türkei auch zur erneuten Wahl angetreten. Was macht sie im irakischen Erbil?

Wir sind die diplomatische Vertretung der Kurdinnen und Kurden im Irak. 2009 hat die AKP knapp 4.000 politische Akteure, unter anderem auch Bürgermeister, festgenommen. Die HDP spricht in diesem Zusammenhang von einem politischen Genozid. Hunderte flüchteten in den Irak und nach Europa. Unsere Aufgaben hier sind diplomatische Vertretung und die Hilfe für Menschen, die wegen den Repressionen fliehen mussten. Wir versuchen hier, uns gemeinsam zu helfen.

Befürchten Sie weitere Repressionen, wenn die HDP wieder gut abschneidet?

Bei den letzten Wahlen in diesem Jahr hat die HDP die Zehnprozenthürde übersprungen. Die Regierung hat durch eigene Umfragen mitbekommen, dass der Erfolg der HDP sich wiederholen wird. Bis zum Massaker von Ankara, wo am 10. Oktober 2015 Bomben auf einer Friedensdemonstration gezündet wurden, haben Anhänger der Regierung insgesamt 170 unserer Büros zerstört. In der ganzen Geschichte der Türkei gab es immer Verfolgung, aber erst unter Erdogan hat dies strategische Züge angekommen. Es ist der Krieg von Erdogan, der bereit ist, die Völker der Türkei für seine eigene Mehrheit zu opfern. Die Regierung sagt ganz offen: »Wenn ihr jetzt erfolgreich seid, werden wir euch ins Gefängnis sperren oder in die 1990er Jahre zurückkehren.« Man kann es auch so verstehen: »Wenn ihr erfolgreich seid, bringen wir euch um.«

Ich komme aus Silvan, wo in den 1990ern über 2.000 Menschen verschwunden sind. Die Täter wurden nie zur Rechenschaft gezogen. Mit der Drohung, in die 1990er Jahre zurückzukehren, gibt man zu verstehen, dass man doch weiß, wer die Täter waren und dass sie wieder angreifen werden.

An den Flughäfen und sogar in Deutschland sind Wahlurnen aufgestellt worden. Welche Möglichkeit haben türkische Mitbürger, die im Irak leben, an diesem Sonntag zu wählen?

Hier leben 110.000 Menschen, die die türkische Staatsbürgerschaft haben. Aber an der Grenze wurden keine Wahlurnen aufgestellt. Man möchte ihre Stimmen nicht. Sie müssten in ihre Heimatstadt gehen, um zu wählen. Viele können sich diesen Weg nicht leisten.

Man kann also auch nicht von hier per Briefwahl wählen?

So etwas gibt es hier nicht. Und obwohl wir das zweite Mal ins Parlament gekommen sind, bekommen wir keine öffentlichen Gelder. Wir müssen den ganzen Wahlkampf selbst bezahlen.

Wie macht die HDP das? Zwei selbst finanzierte Wahlkämpfe, die Flüchtlingslager für die Jesiden, all dies ist ja ein unglaublicher finanzieller und personeller Aufwand.

Die Unterstützung und der starke Wille des kurdischen Volkes machen das möglich.

Wie wird es nach der Wahl weitergehen?

Es gab große Feierlichkeiten hier, als das letzte Wahlergebnis bekanntwurde. Alle Parteien vor Ort gratulierten der HDP – bis auf die AKP. Wir sind bereit, alles zu tun, damit der Friedensprozess weitergeführt werden kann. Wir laden zum Beispiel die AKP zu allen Kongressen und Feierlichkeiten ein. Aber sie sind nie gekommen. Je tiefer Erdogan sinkt, desto aggressiver wird er. Auf der internationalen Ebene sollte er den Islam liberalisieren. Er hat hier Schach gespielt und alle seine Bauern sind umgefallen.

Sind in der Beziehung zu Deutschland zum Beispiel die Flüchtlinge eine Schachfigur, weil sich Berlin erhofft, dass Erdogan Reisende aufhält?

Am Verhandlungstisch für die Demokratiebewegung hat es keine Bedeutung, was Deutschland macht. Die Rolle, die Erdogan zugesprochen wurde, hat zu einem Fiasko geführt. Es ist zum Hauptanliegen der Türkei geworden, die kurdische Bewegung zu kriminalisieren. Europa braucht Ressourcen. Die Ressourcen die hier gewonnen werden, sind für die europäischen Länder wichtig. Daher versuchen sie, die Türkei für ihre Interessen zu benutzen.

Was denken Sie: Wird Erdogan nach der Wahl mit seinen Drohungen Ernst machen?

Wir glauben daran, dass er genau das vorhat. Er hat bisher alles was er gesagt hat, umgesetzt. Das haben seine »Sicherheitskräfte« zum Beispiel klar gezeigt, als sie in Sirnak die Leiche des 24jährigen Haci Lokman Birlik hinter einem Fahrzeug durch die Straßen zogen.

Wäre ein Wahlerfolg dann überhaupt ein Grund zum Feiern?

Auch wenn die HDP verliert, werden sie versuchen, diese Partei und die Kurden von der Bildfläche zu löschen. Wir sehen uns in der Pflicht, die Mörder von Ankara und Diyarbakir zur Rechenschaft zu ziehen. Erdogan hat das nationale und das internationale Recht in den Dreck gezogen. Obwohl er überparteilich sein sollte, hat er immer zur Spaltung beigetragen. Wenn er die Macht verliert, sind wir sicher, dass er vom Menschengerichtshof in Den Haag verurteilt wird. Es liegen viele Anzeigen gegen ihn vor. Die Kurden waren immer für Verteidigung der Menschenrechte. Selbst als alle anderen der Türkei den Rücken zugewandt haben, haben wir dies nie getan. Kurdische Mütter, die ihre Kinder in diesem Krieg verlieren, sind für den Frieden. Auch wenn sie ihr Leben riskieren. Trotz alledem. Die kurdische Freiheitsbewegung kämpft mit den Peschmerga gegen die größte Plage der Gesellschaft. Daher sind wir wichtig für die Region. Vor allem die kurdischen Frauen sind das Fundament dieser Freiheitsbewegung. Sie schreiben gerade Geschichte und kämpfen für alle Frauen der Welt. Sie sind bereit, auch ihr Leben zu opfern. Das ist auch der Grund, warum wir über die Haltung Europas zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verärgert sind. Speziell über die deutsche Politik. Die PKK ist längst bekannt als eine Bewegung, die für Menschenrechte kämpft und die Sicherheit der Menschen hier gewährleistet. Daher ist es unethisch und mit gesundem Menschenverstand nicht nachvollziehbar, dass sie noch immer wie der »Islamische Staat« als Terrororganisation bezeichnet wird. Die PKK ist eine fortschrittliche Bewegung, die aufgrund von Repression und Unterdrückung zustande gekommen ist. Es ist doch verständlich, dass ein ganzes Volk, das bekämpft wird, sich zur Wehr setzt. Uns ist es deshalb ein ernstes Anliegen, dass die PKK endlich von dieser absurden Terrorliste gelöscht wird. Immer mehr Menschen gehen dafür auf die Straße. Es macht keinen Sinn mehr, die PKK weiter zu kriminalisieren. Europa muss aufhören, mit ihr sympathisierende Kurden wie Verbrecher zu behandeln. Die HDP ist ein Projekt für Frieden und Freiheit zwischen allen Völkern. Zum ersten Mal hat es eine Bewegung geschafft, dass alle ethnischen Identitäten im Parlament vertreten sind. Das passt Erdogan nicht. Aber am Ende wird es egal sein, was sie tun. Der Frieden in dieser Region wird gewinnen.