welt.de, 04.11.2015

http://www.welt.de/politik/ausland/article148419441/Erdogan-will-sich-schnell-noch-mehr-Macht-sichern.html

Drei Tage nach Wahl

Erdogan will sich schnell noch mehr Macht sichern

Sein Wahlsieg ist gerade einmal drei Tage alt, da beeilt sich Präsident Erdogan, seine Machtbefugnisse auszuweiten. Unterdessen geht die Kampagne gegen seine Kritiker mit großer Härte weiter.

Bereits drei Tage nach dem Wahlsieg seiner AKP (Link: http://www.welt.de/148312720) dringt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan auf eine rasche Verfassungsreform zum Ausbau der Machtbefugnisse im höchsten Staatsamt.

Die Debatte über die dafür notwendige Volksbefragung werde beschleunigt, kündigte Präsidenten-Sprecher Ibrahim Kalin an. Der Ausbau der präsidialen Vollmachten sei kein Frage der Zukunft Erdogans, sagte Kalin. "Er ist bereits in die Geschichtsbücher eingegangen."

Dem Präsidenten gehe es darum, das politische System der Türkei effektiver zu machen. Das angestrebte präsidiale System mit mehr Macht für das Staatsoberhaupt (Link: http://www.welt.de/148363324) könnte das Land "eine Liga höher springen" lassen, so Kalin.

Sollte eine Volksbefragung nötig sein, werde es eine geben, sagte der Sprecher. Die islamisch-konservative AKP errang vergangenen Sonntag 317 der 550 Parlamentssitze (Link: http://www.welt.de/148363135) . Allerdings fehlen ihr 13 Mandate, die nötig sind, um ein Referendum über Verfassungsänderungen in Gang zu setzen.

Regierungsnahe Zeitung stellt Kritiker an den Pranger

Eine türkische Zeitung stellte berühmte Künstler wegen kritischer Twitter-Nachrichten an den Pranger. Die regierungsnahe "Sabah" erschien in ihrer Mittwochausgabe unter anderem mit dem Foto des bekannten Pianisten Fazil Say auf der Titelseite und der Überschrift: "Die Künstler, die ihr Volk verachten".

Im Innenteil der Zeitung sind die Bilder von insgesamt 16 Musikern und Schauspielern zusammen mit von ihnen abgesetzten Tweets abgebildet. Die Kurznachrichten seien hasserfüllt und demütigten Millionen Wähler der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP, schrieb das Blatt. Unter den abgebildeten Künstlern sind auch die mehrfach ausgezeichneten Schauspieler Tarik Akan und Beren Saat.

Der Pianist Fazil Say hatte nach dem Wahlsieg der AKP (Link: http://www.welt.de/148312720) am Sonntag getwittert: "Möge diese 13-jährige finstere Ära ein Ende finden und mögen wir erhellt werden. Möge jeder von uns dieses eine Leben in Gleichheit und Frieden leben können."

Regierung nimmt Journalisten und Oppositionelle fest

Am Dienstag bereits ging die Regierung mit großer Härte gegen Kritiker und Oppositionelle vor. Die Polizei nahm zwei führende Journalisten eines politischen Wochenmagazins fest, denen sie vorwarf, die Regierung stürzen zu wollen.

Zudem ging sie gegen Anhänger von Erdogans Widersacher Fethullah Gülen vor. Bei Razzien in 18 Provinzen wurden am Dienstag 44 Personen in Gewahrsam genommen, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete.

Das Magazin "Nokta" teilte mit, Chefredakteur Cevheri Güven und Nachrichtenchef Murat Capan seien festgenommen und befragt worden, nachdem die Polizei alle Kopien der Ausgabe dieser Woche beschlagnahmt habe.

Titelseite soll zum "bewaffneten Aufstand" angestiftet haben

Die beiden Journalisten werden von den türkischen Behörden beschuldigt, zu einem bewaffneten Aufstand gegen die Regierung angestiftet zu haben. Sie hätten auf einer Titelseite ihres Magazins die Vorstellung erweckt, dass nach der Wahl ein Bürgerkrieg ausbrechen werde, hieß es. Allerdings konnte der betreffende Artikel am Dienstag nicht mehr aufgerufen werden, weil die Webseite der Zeitung, die Erdogan und der von ihm gegründeten AKP kritisch gegenübersteht, in der Türkei blockiert wurde.

Die beiden Journalisten wiesen die Anschuldigungen bei ihrer Befragung zurück, wie die Zeitung "Hürriyet Daily News" berichtete. Das Cover der Titelseite sei vor der Wahl am Sonntag veröffentlicht worden, also zu einer Zeit, in der Meinungsumfragen darauf hingedeutet hätten, dass es zu chaotischen Koalitionsverhandlungen kommen könnte. Auch in den vergangenen Wochen wurden mehrere Journalisten festgenommen.

Die türkische Regierung greift hart gegen Medienunternehmen und Journalisten durch, die kritisch über sie berichten. Dutzende Herausgeber von führenden internationalen Medien haben Erdogan geschrieben und ihre Sorge über die sich verschlechternde Situation für Journalisten zum Ausdruck gebracht. Vor kurzem war die Zentrale von "Hürriyet" nach Kritik an Erdogan angegriffen worden. Danach war ihr Kolumnist Ahmet Hakan verfolgt und geschlagen worden.

Auch die Luftangriffe auf die Rebellen der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK wurden nach dem AKP-Wahlsieg wieder aufgenommen. Unter anderem seien bei den Einsätzen am Montag Bunker und Waffenlager an sechs Orten im Nordirak getroffen worden, erklärte das Militär am Dienstag. Die Kämpfe zwischen dem Militär und der PKK waren im Juli wieder aufgeflammt. Damit zerschlug sich der 2012 begonnene Friedensprozess mit den kurdischen Rebellen.

Menschenrechtskommissar: Gewalt gegen Medienvertreter "besorgniserregend"

Die EU hatte auf dem Gipfeltreffen am 15. Oktober mit der Türkei einen Plan zur Bewältigung der Flüchtlingskrise und Finanzhilfen vereinbart. Doch die Finanzhilfen werden nach Ansicht des Menschenrechtskommissars des Europarats nichts an der Menschenrechtssituation in der Türkei ändern. "Jegliche Hoffnungen sind irreführend", sagte Nils Muiznieks.

Muiznieks sagte, die Türkei brauche dringend Hilfe im Umgang mit Flüchtlingen. Die EU müsse jedoch auch die Konsequenzen bedenken und genau hinschauen, was mit dem Geld geschehe. Kritisch sei etwa, dass Flüchtlinge in der Türkei als Gäste behandelt würden und somit keine Möglichkeit hätten, Asylanträge zu stellen. Zudem sei die Gewalt gegen Medienvertreter besorgniserregend. Muiznieks forderte, dass die EU dies bei den Verhandlungen nicht aus dem Blick verlieren dürfe.

Die Türkei ist dem 47 Staaten umfassenden Europarat 1949 beigetreten. Das Organ mit Sitz in Straßburg beschließt zwischenstaatliche, völkerrechtlich verbindliche Abkommen, wie etwa die Europarats-Konvention oder die Europäische Menschenrechtskonvention.
Reuters/AFP/coh