welt.de, 02.11.2015

http://www.welt.de/debatte/kommentare/article148363287/Erdogans-Sieg-als-Triumph-ueber-die-Unglaeubigen.html

Wahl in der Türkei

Erdogans Sieg als Triumph über die "Ungläubigen"

Der Erfolg der AKP ist ein Sieg des politischen Islam. Präsident Erdogan spricht schon von 2071, wenn sich zum tausendsten Mal der Sieg der türkischen Seldschuken über Byzanz jährt. Von Deniz Yücel
Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bei einer Zeremonie zum Gründungstag der Republik in Ankara
Foto: AFP Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bei einer Zeremonie zum Gründungstag der Republik in Ankara

Der Lieblingsautor der Istanbuler Taxifahrer heißt Aziz Nesin. Nicht, dass sie alle die satirischen Kurzgeschichten des 1995 verstorbenen Schriftstellers gelesen hätten. Aber ein Wort von ihm zitieren sie liebend gerne: "Aziz Nesin hat ja gesagt, dass 60 Prozent aller Türken Idioten sind. Aber in Wahrheit sind es 90 Prozent!"

Seit dem überraschend hohen Wahlsieg (Link: http://www.welt.de/148363135) der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) macht das Wort unter ihren enttäuschten Gegnern die Runde. Dabei sind die Türken auch nicht blöder als andere. Sie sind nur muslimisch. Und das ist das Problem: Der Sieg der AKP ist der Sieg des politischen Islam.

Denn anders als bei ihrem ersten Wahlsieg im Jahr 2002 ist die AKP der Gegenwart eine Partei mit einer Mission. Mit einer dawa, wie es im Jargon der Islamisten heißt. Von der einstigen Bündnispartei, der neben der islamistischen Milli-Görüs-Bewegung auch der große Teil des bürgerlich-konservativen Milieus, linksliberale Intellektuelle und muslimische Menschenrechtler und die Gülen-Bewegung angehörten, ist nichts mehr übrig.

"Wir haben unser Milli-Görüs-Hemd abgestreift", hatte Erdogan damals gesagt. Inzwischen hat er dieses Hemd aus dem Kleiderschrank hervorgekramt und dennoch die Hälfte der türkischen Bevölkerung gewonnen.

Lenin würde sagen: Islamismus plus Straßenbau

Das ist die ebenso beachtenswerte wie beängstigende Leistung der AKP: Sie hat den größten Teil des einstigen Mitte-Rechts-Spektrums beerbt und dieses islamisiert, wo die Milli-Görüs-Parteien einen Stimmanteil von zehn, 15 Prozent hatten – und das mit einer Rhetorik, die polarisierender ist als alles, was jemals von der alten Milli Görüs zu hören gewesen war, und obwohl rechts von ihr weiterhin fundamentalistische Parteien existieren. Die AKP von heute, das ist, um es frei nach Lenin auszudrücken, Islamismus plus Straßenbau (Link: http://www.welt.de/politik/ausland/article148169716/AKP-Sie-klauen-aber-sie-arbeiten.html%20%20http://www.welt.de/politik/ausland/article148169716/AKP-Sie-klauen-aber-sie-arbeiten.html) .

Denn die Grundlage, auf der Erdogan und die AKP die Gesellschaft in "wir" und "die" unterteilen, ist der Islam – genauer: der sunnitische Islam, noch genauer: der orthodoxe sunnitische Islam. Das ist zugleich die Antwort auf die Frage, die man sich nicht nur in Europa, sondern ebenso in Teilen von Istanbul oder Izmir stellt: Wie zum Teufel kann eine Partei nach all den Verwerfungen und Skandalen noch solche Ergebnisse einfahren? Die Antwort: It's the religion, stupid!

Dabei sind auch viele Wähler der sozialdemokratischen CHP oder der prokurdischen HDP mehr oder minder gläubige Sunniten, die jedoch ihren individuellen Glauben von ihren politischen Ansichten trennen. Den muslimischen Mainstream aber repräsentiert die AKP. Deswegen kommt sie auch mit Skandalen durch, für die die alten Mitte-Rechts-Parteien längst abgestraft worden wären.

Mag die AKP einen großen Teil der Fernsehsender und der Zeitungen kontrollieren und mit ihren bezahlten Trollen inzwischen in den sozialen Medien eine starke Kraft bilden – mit mangelnder Information der Wähler allein kann man die Erfolge nicht erklären. Nein, ihre Wähler sind nicht doof. Sie sind gläubig.

21 Mal das Wort "Allah"

Deswegen entzieht sich ihr ultimatives Argument auch jeder rationalen Argumentation: Sie wählen die Gläubigen gegen die in ihren Augen Ungläubigen. Genau das, was das islamistische Krawallblatt "Yeni Akit" am Wahltag forderte (Link: http://twitter.com/Besser_Deniz/status/660755272491773952) : "Macht den Ungläubigen keine Freude!"

Die "Ungläubigen" sind nicht nur Europa, Amerika und Israel, gegen die AKP-Medien und Politiker sich ständig in Verschwörungstheorien üben. Die "Ungläubigen" sind auch die Feinde im Inneren: Linke, Liberale, Kemalisten, Sozialdemokraten, Aleviten und die kurdische Bewegung. In einem Wahlkampfspot (Link: https://www.youtube.com/watch?v=QQhaA45NiFk) wiederholte die AKP die Mär, dass die PKK in Wahrheit von Ausländern dominiert werde. Doch ihr Nationalismus ist islamistisch gefärbt.

Dies zeigte auch die erste Stellungnahme (Link: http://www.welt.de/148313242) von Ministerpräsident Ahmet Davutoglu am Wahlabend in seiner Heimatstadt Konya. In seiner kurzen Rede ließ er 21 Mal das Wort "Allah" fallen. Dass er dabei – unter Berufung auf einen berühmten Sohn der Stadt, den islamischen Mystiker Dschalal ad-Din (Mevlana) – an die Opposition ein paar versöhnende Worte richtete, steht bis auf Weiteres unter Beweisschuld.

Denn eine versöhnliche Rede hatte auch Recep Tayyip Erdogan im Sommer vorigen Jahres nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten gehalten. Dennoch hat er danach die Polarisierung weiter vorangetrieben, was sich erst vor kurzer Zeit genau dort, in Konya zeigte – als Tausende Fußballfans bei einer Schweigeminute (Link: http://www.welt.de/147573168) für die Opfer des Terroranschlags von Ankara pfiffen und "Allahu akbar" riefen. Die Todesopfer: "Ungläubige".

Auch in Erdogans ständiger Rede von "einem Staat, einer Fahne, einem Vaterland" steckt dieses islamistische Moment: Denn dass es nur einen Gott gibt, gehört zum islamischen Glaubensbekenntnis. Und noch etwas steckt in dieser Formel: eine Partei.

Schon seit einigen Jahren spricht Erdogan vom "Ziel 2023", also dem 100. Geburtstag der Republik, bis zu dem er die Türkei zu einer führenden Wirtschaftsmacht machen will. Und sie, wie ihm Kritiker mit einigem Recht vorhalten, ihrer laizistischen Grundlagen berauben will.

Wachstum auf Pump

Inzwischen spricht er sogar vom Jahr 2071, wenn sich zum 1000. Mal der Sieg der türkischen Seldschuken über Byzanz jähren wird. Die Möglichkeit, dass man bis dahin die eine oder andere Wahl verlieren könnte, ist in diesem tendenziell totalitären Programm nicht vorgesehen.

Die AKP, einst mit dem Versprechen angetreten, den autoritären Nachlass des kemalistischen Einparteienstaates aufzuräumen, hat seit diesem Sonntag einen großen Schritt zum islamischen Quasi-Einparteienstaat gemacht.

Aber der Islam ist nicht das einzige Rezept ihres Erfolgs. Hinzu kommt der – teils auf Pump errichtete – Wirtschaftsboom oder das System von Loyalitäten, Abhängigkeiten und Pfründen, mit dem die AKP Staat und Wirtschaft verwoben hat. Natürlich spielte auch das Klima der Angst, unter der diese Wahl stattfand, eine wichtige Rolle bei diesem Erfolg. Positiver formuliert: der Wunsch nach Stabilität und Kontinuität.

Kann Ahmet Davutoglu mäßigen?

Ein weiterer Aspekt: die heimliche libidinöse Zuneigung, die seine Anhängerinnen für Erdogan empfinden. Man muss sich nur die vor Verzückung schreiende AKP-Anhängerin ansehen, die am Wahlabend über die Sender lief und halb vor Freude weinend, halb lachend rief: "Ich fühle mich, als wäre ich im Paradies!"

Auf einem ganz anderen Blatt (Link: http://www.welt.de/148312810) steht freilich das Unvermögen der parlamentarischen Opposition, die ihren Beitrag zum Wahlergebnis geleistet hat. Die Opposition hat getrennt gekämpft, aber gemeinsam verloren. Anlass zur Hoffnung, dass die arg lädierte türkische Demokratie nicht endgültig begraben wird, gibt sie bis auf Weiteres nicht; der außerparlamentarische Impuls von Gezi hat nicht gereicht.

So bleibt eine zarte Hoffnung: Anders als im Juni gehörte dieser Wahlkampf Ahmet Davutoglu. Mag er bislang keine ideologischen Unterschiede zu seinem Förderer Erdogan gezeigt haben, teilt er doch nicht dessen rachsüchtigen Charakter. Vielleicht setzt er der Polarisierung der Gesellschaft und der Marginalisierung der Opposition gewisse Grenzen. Eine schwache Hoffnung. Bis auf Weiteres aber die einzige.