taz.de, 02.11.2015

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Nach der Parlamentswahl in der Türkei

„Ein rabenschwarzer Tag“

Regierungschef Davutoglu fordert eine neue Verfassung. Damit will Erdogan ein Präsidialsystem einführen. Die HDP kritisiert den Wahlkampf als „unfair“.

ISTANBUL dpa | Nach dem überraschend deutlichen Wahlsieg der islamisch-konservativen AKP in der Türkei hat Ministerpräsident Ahmet Davutoglu eine neue Verfassung für das Land gefordert. Der AKP-Chef appellierte in der Nacht zu Montag bei seiner Siegesrede in Ankara an die drei im Parlament vertretenen Oppositionsparteien, dabei mit der AKP zusammenzuarbeiten. „Lassen wir die Putschverfassung hinter uns, und fassen wir alle zusammen mit an für eine zivile und freiheitliche Verfassung“, sagte Davutoglu laut der Nachrichtenagentur Anadolu.

Eine Verfassungsreform zur Einführung eines Präsidialsystems ist erklärtes Ziel von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und der von ihm mitgegründeten AKP. Die derzeitige Verfassung stammt aus der Zeit der Militärherrschaft nach dem Putsch von 1980. Für ein Referendum über eine Verfassungsreform sind 330 Abgeordnete nötig – 13 mehr, als die AKP nach der Wahl im Parlament haben wird. Die drei Oppositionsparteien – die Mitte-Links-Partei CHP, die pro-kurdische HDP und die ultrarechte MHP – sind strikt gegen ein Präsidialsystem. Sie befürchten eine autokratische Herrschaft Erdogans.

HDP-Chef Selahattin Demirtas bezeichnete die Wahl als unfair, da seine Partei wegen der jüngsten Anschläge und Gewalt im kurdischen Südosten keinen richtigen Wahlkampf führen konnte.

Auch ein Wahlbeobachter des Europarats in der Türkei, der Schweizer Sozialdemokrat Andreas Gross, hat die Parlamentswahl in der Türkei kritisiert. Die Türken hätten zwar die freie Wahl zwischen verschiedenen Parteien gehabt, sagte er am Montag im Deutschlandradio Kultur. Von einer „Fairness des Prozesses“ könne aber nicht die Rede sein. Seit der Wahl im Juni habe es viel Gewalt gegeben, Journalisten seien eingeschüchtert, Zeitungen und Fernsehsender dichtgemacht worden, kritisierte Gross. Das habe auch zu Selbstzensur geführt. Die Gewalt habe zudem den Wahlkampf behindert.
Zügige Regierungsbildung

Nach der Neuwahl zum Parlament wird in Ankara mit einer zügigen Regierungsbildung gerechnet. Entgegen allen Vorhersagen der Meinungsforscher konnte Erdogans AKP bei der Wahl mit knapp 50 Prozent der Stimmen die vor fünf Monaten verlorene absolute Mehrheit zurückerobern. Nach den vorläufigen Ergebnissen sicherte sich die AKP 317 der 550 Sitze in der Nationalversammlung. Die CHP kommt demnach auf 134, die HDP auf 59 und die MHP auf 40 Abgeordnete.

Bei der Wahl im Juni hatte die AKP ihre absolute Mehrheit erstmals seit Übernahme der Regierung im Jahr 2002 verloren. Nachdem Koalitionsgespräche gescheitert waren, rief Erdogan Neuwahlen aus. Die Opposition warf dem Präsidenten vor, eine Koalition mit der CHP gezielt verhindert zu haben, um Neuwahlen zu erzwingen und die absolute Mehrheit zurückzuerobern.

Erdogan beglückwünschte die AKP – der er formal nicht mehr angehört, für die er aber Wahlkampf gemacht hatte – am Montag zu ihrer Alleinregierung. Davutoglu kündigte an, die Rechte aller Bürger und die Meinungs- und Glaubensfreiheit zu schützen. „Die Feinde der neuen Türkei haben einmal mehr verloren“, sagte er. „Die Wahl vom 1. November war das Referendum für die neue Türkei. Ihr habt gezeigt dass die alte Türkei tief begraben ist und nie wieder zurückkehren wird.“
Wahlmanipulation befürchtet

Der AKP-Wahlsieg wird nach Einschätzung der Grünen-Politikerin Claudia Roth negative Konsequenzen für die EU in der Flüchtlingskrise haben. Sie glaube, dass Erdogan künftig der EU seine Bedingungen diktieren werde, sagte die Bundestags-Vizepräsidentin dem Sender WDR 5 am Montag. Roth sprach mit Blick auf den Wahltag von einem „rabenschwarzen Tag für die Türkei“. Erdogans „Strategie der Polarisierung“ sei aufgegangen.

Die Türkei ist ein Schlüsselland in der Flüchtlingskrise. Über das Land kommen die meisten Flüchtlinge in die EU. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) war deswegen zwei Wochen vor der Parlamentswahl zu Gesprächen mit Erdogan nach Istanbul gereist. Roth sagte: „Ich glaube, es war ein großer politischer Fehler von Angela Merkel, dass unsere Kanzlerin so unmittelbar vor der Wahl zu Erdogan gefahren ist – zu einem Politiker, der alles andere als Demokratie im Sinn hat.“

Nach Einschätzung des CDU-Außenpolitikers Elmar Brok könnte das klare Wahlergebnis für die EU dagegen von Vorteil sein. Jetzt gebe es die Voraussetzungen dafür, auf einer stabilen Grundlage Gespräche über die Flüchtlingskrise und den Syrien-Konflikt zu führen, sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament am Montagmorgen der Deutschen Presse-Agentur.

Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth (SPD), wertete den Wahlausgang in der Türkei als klares Signal der Wähler für „Stabilität und für Frieden“. Beides werde „am ehesten der AKP zugetraut“, sagte Roth. Anhaltspunkte für Wahlmanipulationen, wie sie in den Reihen der Grünen vermutet werden, lägen ihm nicht vor.

Der Chef der Grünen im Europaparlament, Reinhard Bütikofer, hatte die EU aufgefordert, das Wahlergebnis sorgfältig unter die Lupe nehmen. „Man wird genau hingucken müssen, inwieweit das in seinen Dimensionen doch überraschende Ergebnis einfach das Ergebnis einer Fehlprognose aller dortigen Demoskopen gewesen ist oder möglicherweise auch das Ergebnis von Manipulationen“, sagte der deutsche Politiker.
Türkische Wähler in Deutschland

Bei den türkischen Wählern in Deutschland hat die AKP überproportional gut abgeschnitten. Auf sie seien 59,7 Prozent der in der Bundesrepublik abgegebenen Stimmen entfallen, berichtete die staatsnahe Nachrichtenagentur Anadolu am Montag. Insgesamt kam die AKP bei der Wahl vom Sonntag auf 49,5 Prozent der Stimmen.

Die pro-kurdische HDP wurde in Deutschland diesen vorläufigen Ergebnissen zufolge mit 15,9 Prozent zweitstärkste Kraft (Gesamtergebnis: 10,8 Prozent). Die Mitte-Links-Partei CHP kam auf 14,8 Prozent (25,3 Prozent), die ultrarechte MHP auf 7,5 Prozent (11,9 Prozent). Rund die Hälfte der 2,9 Millionen wahlberechtigten Türken im Ausland lebt in Deutschland.