Neue Zürcher Zeitung, 04.11.2015

http://www.nzz.ch/international/wir-traeumen-trotzdem-weiter-von-einer-freien-tuerkei-1.18641076

Gastkommentar

«Wir träumen trotzdem weiter von einer freien Türkei»

Nach dem Wahlsieg der AKP geht die Regierung wieder mit Macht gegen ihre Gegner vor. Sind dies die Vorzeichen einer Diktatur unter Erdogan?

DSt. In der Türkei hat die islamisch-konservative AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan am Sonntag ihre absolute Mehrheit zurückerobert . Nach dem Sieg sprach Ministerpräsident Ahmet Davutoglu zwar von Versöhnung, doch tatsächlich liess die Regierung wenig Zeit verstreichen, um mit Macht gegen ihre Gegner vorzugehen – gleich am Dienstag verhafteten Sicherheitskräfte Dutzende Anhänger der regierungskritischen Gülen-Bewegung . Auch wurden erneut Haftbefehle gegen unliebsame Journalisten erlassen, nachdem die AKP-kontrollierte Justiz erst vergangene Woche einen Medienkonzern polizeilich hatte stürmen und unter staatliche Kontrolle stellen lassen. Sind dies die Vorzeichen einer verfestigten autokratischen Herrschaft Erdogans? Was empfinden junge, freiheitlich gesinnte Türken, die vor den Wahlen für die Opposition stimmten? Die Sozialanthropologin Yasemin Aydin, 29, und der Sozialwissenschafter Fatih Ceran, 37, haben für NZZ.ch einen Gastkommentar geschrieben.

Wir sagen es frei heraus: Der Wahlsieg der AKP frustriert uns. Der Demokratie-Knigge gebietet uns zwar, das Ergebnis der türkischen Wahl zu respektieren. Aber es fällt uns schwer, der AKP zu gratulieren. Wir sprechen für die andere Hälfte der Gesellschaft, die so eindeutig, so vehement verloren hat. Wir gehören zu der Verliererseite, und es frustriert uns, von den Gewinnern nun tagtäglich daran erinnert zu werden.

«Zustimmung zu repressiver Politik»

Wir – Demokraten, Linke, Sunniten und Aleviten, Türken und Kurden –, die wir allesamt von einer freien und demokratischen Türkei träumen, sind frustriert, weil dieser Sieg von der AKP-Regierung als eine klare Zustimmung zu ihrer repressiven Politik verstanden werden muss. Wir sind frustriert, weil die AKP der türkischen Öffentlichkeit eine Lüge verkauft hat. Diese Lüge lautet, dass es ohne die Regierungspartei keine Stabilität geben kann. Und dass Gewalt als eine Form der politischen Zielführung legitim sein kann.

Wir sind frustriert, weil die Medien in unserem Land schizophren geworden sind. Was heute behauptet wird, kann morgen schon wieder verleugnet werden. Mit diesen Medien ist die Manipulation der öffentlichen Meinung in der Türkei gesellschaftsfähig geworden. Vielen Menschen ist es heute schon vollkommen gleichgültig, ob jemand zu Recht oder zu Unrecht beschuldigt wird.

«Willkür des Staates»

Dabei müssen wir feststellen, dass uns die in der Verfassung verankerten Rechte vor der Willkür des Staates nicht mehr schützen können. Wie konnte sich die Hälfte der Bevölkerung nur für eine Politik entscheiden, in der die Meinungsfreiheit mit Füssen getreten wird; in der oppositionelle Fernsehsender und Zeitungen von Zwangsverwaltern konfisziert werden, einfach nur, weil sie dem Präsidenten und seiner Partei nicht nach dem Mund reden!

Wir sind frustriert, weil die AKP-Wählerinnen und -Wähler offenkundig darüber hinwegsehen, wenn die Rechte ihrer Nachbarn, Freunde, Verwandten und Kollegen verletzt werden. Macht ihnen das denn gar nichts aus? Hat die Hälfte unserer Gesellschaft kein Problem damit, dass es in der Türkei keine Gewaltenteilung mehr gibt, keine unabhängige und unparteiische Justiz? Applaudieren sie, wenn der Staat zur Diskriminierung und zum Hass gegenüber Andersdenkenden anstachelt?

«Wir können nicht einmal gemeinsam trauern»

Wir sind die Andersdenkenden. Wir sind die, die seit Jahren von der AKP zurechtgewiesen, getadelt und beschimpft werden. Die bei friedlichen Protesten verletzt werden, gar ihr Leben verlieren. Deren rechtmässiges Eigentum über Nacht beschlagnahmt wird. Deren Medien für «illegal» erklärt werden. Die selber zu Terroristen erklärt werden. All dies ist nicht der anderen Hälfte passiert, es ist uns passiert.

Wir sind frustriert, weil uns diese Wahlen vor Augen geführt haben, dass wir es als türkische Gesellschaft nicht schaffen, zusammenzukommen. Nicht einmal der tragische Verlust von mehr als hundert Menschenleben bei dem Terroranschlag in Ankara hat das «geschafft». Wir sind nicht einmal in der Lage, gemeinsam zu trauern. Stattdessen entfernen wir uns voneinander. Immer weiter.

«Unsere Gedanken können sie nicht konfiszieren»

Wir sind frustriert, aber wir geben die Hoffnung trotzdem nicht auf, dass sich in diesem Land etwas verändern kann. Wir träumen weiter: von einer friedlichen, einer freien, einer demokratischen und toleranten Türkei. Auch wenn wir wissen, dass die Machthaber alles tun werden, um uns auch noch das Träumen zu verbieten. Unsere Gedanken aber können sie nicht konfiszieren.

Yasemin Elif Aydin, Fatih Ceran