welt.de, 04.11.2015

http://www.welt.de/kultur/article148418463/Die-Tuerkei-verspielt-ihre-kluegste-Generation.html

Bilanz des Terrors

Die Türkei verspielt ihre klügste Generation

Nach dem Terror, nach der Wahl: Die Türkei riskiert, dass ihr die klügste, fröhlichste Generation aller Zeiten den Rücken kehrt. Die Bühnenbilderin Lisa Çalan etwa, der eine Bombe beide Beine abriss. Von Deniz Yücel

Am Anfang waren die Bomben von Diyarbakir. Am Anfang dieser fünf Monate voller Gewalt, Terror und Krieg, die die Türkei erschütterten, stand der Anschlag auf die Kundgebung (Link: http://www.welt.de/142043664) der Demokratiepartei der Völker (HDP), zwei Tage vor der Parlamentswahl am 7. Juni. Gemessen an dem, was da noch kommen sollte, war es nicht mal der schlimmste Anschlag – fünf Tote, 16 Schwerverletzte.

Es schreibt sich leicht. Fünf Tote, 16 Schwerverletzte.

Eine dieser Schwerverletzten lernte ich ein paar Wochen später kennen: Lisa Çalan, 28 Jahre, Bühnenbildnerin. Ihr waren beide Beine oberhalb der Knie amputiert worden. Als ich Anfang Juli aus einem anderen Anlass nach Diyarbakir flog, besuchte ich sie im Krankenhaus.

Am nächsten Tag sollte sie entlassen werden. Sie erzählte von ihrer Angst davor: "Wenn man entlassen wird, bedeutet das ja normalerweise, dass man gesund ist. Ich komme morgen raus. Aber ich bin nicht gesund."

Eigentlich wollte ich ihre Geschichte aufschreiben: wie sie in diesem Sommer mit ihrem Freund ans Meer fahren wollte – es wäre ihr erster Urlaub am Strand gewesen. Wie sie ihre erste Regiearbeit angehen wollte.

Stark sein müssen, schwach sein wollen

Ich wollte von ihrem Kampf mit ihren Phantomschmerzen schreiben und von ihrem inneren Kampf: einerseits dem Wunsch, eine politische Erklärung für Schicksal zu finden, ihm gar so etwas wie Sinn zu geben, und andererseits ihrem Schmerz darüber, dass sie nie wieder so tanzen und durch die Berge Kurdistans wandern wird, wie sie es so gerne getan hat. Von ihrer inneren Zerrissenheit, stark sein zu müssen und schwach sein zu wollen.

Doch ein paar Tage danach zündete ein Selbstmordattentäter eine Bombe in der Grenzstadt Suruc (Link: http://www.welt.de/144244298) . Die Opfer: Mitglieder einer sozialistischen Jugendorganisation, die als freiwillige Aufbauhelfer ins syrisch-kurdische Kobani wollten. 32 Tote, 35 Schwerverletzte.

32 Tote, 35 Schwerverletzte.

Kurz danach ermordeten Anhänger der PKK im Ort Ceylanpinar zwei Polizisten (Link: http://www.welt.de/144309357) in ihrer Wohnung. Derartige blutige Sabotageakte hatte es auf beiden Seiten immer wieder gegeben, seit 2009 die zunächst geheim gehaltenen Verhandlungen zwischen dem Staat und der PKK begonnen hatten.

Doch diesmal nahm das AKP-Regime den Doppelmord von Ceylanpinar zum Anlass, den seit 2013 herrschenden Waffenstillstand aufzukündigen. Die Rechnung: (Link: http://m.welt.de/144746825) bei der Neuwahl, die sich da bereits abzeichnete, von der Atmosphäre von Chaos und Gewalt zu profitieren.

Die Situation hatte sich nun schlagartig verändert. In folgenden Wochen und Monaten starben rund 600 Menschen. Soldaten, Polizisten, PKK-Kämpfer, Zivilisten. Ich besuchte in der Westtürkei Beerdigungen von Soldaten (Link: http://www.welt.de/146224449) und die Stadt Cizre (Link: http://www.welt.de/146805380) kurz nach den tagelangen heftigen Auseinandersetzungen, die dort zwischen der PKK und Sicherheitskräften tobten. Ohne Rücksicht auf zivile Verluste hatte die PKK den Krieg in die Städte getragen.

Drei Schicksale aus dieser Zeit werden vielleicht in Erinnerung bleiben. Das der 10-jährigen Cemile Cagirga, die von einer Polizeikugel getroffen wurde und deren Eltern den Leichnam drei Tage lang in einer Tiefkühltruhe aufbewahrten, weil in Cizre Ausgangssperre herrschte. Das des 13-jährigen Firat Simpil, der durch eine Mine der PKK getötet wurde. Und das des 24-jährigen Haci Lokman Birlik, dessen Leichnam an einem Polizeiauto durch die Stadt Sirnak (Link: http://www.welt.de/147244689) geschleift wurde.

Für alle anderen aber gilt, wie schon für so viele vor ihnen in der Geschichte dieses Landes, dieser Satz aus dem Buch Jesus Sirach: "Manche hinterließen einen Namen, sodass man ihr Lob weitererzählte. Andere blieben ohne Erinnerung. Sie sind erloschen, sobald sie starben. Sie sind, als wären sie nie gewesen."

Keine Zeit zu trauern – seit Jahrzehnten

Zu dem Text über Lisa kam ich nicht mehr. Aber bei meiner nächsten Reise nach Diyarbakir besuchte ich sie in ihrer neuen Wohnung. Ich versuchte ihr zu erklären, warum ich den Text über sie nicht geschrieben hatte.

"Ist schon okay", sagte sie. "Wir finden in diesem Land keine Zeit zum Trauern, es passieren einfach zu viele schreckliche Dinge. Ich habe nicht die Zeit gefunden, um über meine Beine zu trauern."

Wir finden keine Zeit zum Trauern. Eine treffende, eine stille, eine rührende Zusammenfassung der Ereignisse der jüngsten türkischen Geschichte. Eigentlich auch der vergangenen Jahre, Jahrzehnte.

Ein paar Wochen später explodierten wieder Bomben. Diesmal auf einer Friedenskundgebung in Ankara. 102 Tote, 65 Schwerverletzte.

102 Tote, 65 Schwerverletzte.

Ich fuhr nach Ankara, nahm dort an einer Beerdigung (Link: http://www.welt.de/147479140) teil und sprach mit Angehörigen, die vor dem gerichtsmedizinischen Institut auf die Überreste ihrer Liebsten warteten (Link: http://www.welt.de/147521424) . Von Lisa las ich in diesen Tagen in einer türkischen Zeitung: "Ich musste kein Foto aus Ankara sehen", wurde sie zitiert. "Ich habe die Schreie, den Brandgeruch so gespürt, als wäre ich selber dort gewesen."

Ich wiederum fuhr von Ankara weiter nach Adiyaman am Rand der kurdischen Gebiete. Nach den Opfern die Täter. Denn alle Attentäter, die von Diyarbakir, Ankara und Suruc, stammten aus der IS-Zelle von Adiyaman.

Die Angehörigen und ihre Anwälte erzählten mir davon (Link: http://www.welt.de/147779125) , wie sie einen verzweifelten Kampf um ihre Kinder geführt hatten, wie sie mehrfach bei den Behörden und am Ende sogar persönlich bei Ministerpräsident Ahmet Davutoglu vorstellig geworden waren, wie sie Strafanzeigen gegen ihre eigenen Kinder erstattet und trotzdem alle weggehen sehen hatten.

Eine dieser Angehörigen war die Mutter von Orhan Gönder. 20 Jahre alt, derzeit inhaftiert. Der Attentäter von Diyarbakir, der Lisas Beine auf dem Gewissen hat.

Am Ende des Gesprächs zeigte ich Hatice Gönder ein Foto von Lisa und fragte sie, ob sie Lisa etwas ausrichten wolle. "Ich wünschte, mein Sohn wäre tot und die Menschen, die er getötet hat, wären noch am Leben, und diesem Mädchen wäre dieses Schicksal erspart geblieben", sagte sie leise, mit tränenerstickter Stimme.

Ich schob es vor mich hin, Lisa diese Botschaft auszurichten. Es gab ja auch genug zu tun, wenige Wochen später sollte wieder gewählt werden.

Diese Wahl aber war keine dieser Wahlen, wie man sie aus Europa und selbst aus der türkischen Geschichte gewohnt ist. Es ging nicht darum, ob nun diese oder jene Partei die kommenden vier Jahre regiert. Es war eine Richtungsentscheidung (Link: http://) : zwischen einem islamischen Regime mit offensichtlich diktatorischen Zügen und einem Leben in Freiheit und Frieden.

Anders gesagt: Es ging darum, dass dieses Land nicht fortwährend neue Lisas hervorbringt.

Viele starben, ohne sich einmal verliebt zu haben

Die Geschichte der Türkei ist voller Menschen, die aus politischen Gründen getötet wurden. Viele von ihnen wurden keine dreißig Jahre alt, manche nicht einmal zwanzig. Kinder. Niemand weiß, wie viele von ihnen starben, ohne sich einmal verliebt zu haben.

Aber die türkische Gesellschaft hatte sich in den letzen Jahren gewandelt. Eine Zeit lang war die AKP Teil dieser Öffnung, ehe sie, in dem Maße, in dem ihre eigene Macht gegen das Militär und die früheren Eliten sich festigte, selbst zu einem Hindernis der Demokratisierung wurde. Im Frühjahr 2013, mit den Protesten vom Gezi-Park, wurde dieser Konflikt zwischen der jungen, städtischen Generation und der AKP, die nun selber zum Ancien Régime geworden war, offensichtlich.

Doch mit dem Aufbruch von Gezi und dem Waffenstillstand in Kurdistan gab es Hoffnung: Hoffnung darauf, dass dieses Land all das Leid hinter sich lassen, sich zu einer pluralistischen Gesellschaft wandeln könnte, die Platz für alle ihre Gegensätze hat, für Türken, Kurden, Juden und Christen, für Sunniten, Aleviten und Atheisten, für Linke, Rechte und alle dazwischen.

Der Aufbruch von Gezi hatte mein persönliches Interesse an der Türkei geweckt. Ich kam damals nach Istanbul, um darüber zu schreiben – erst für meine damalige Zeitung, die "taz", dann ein Reportagenbuch über dissidenten Teil der türkischen Gesellschaft in all ihren Facetten. Zwei Jahre nach Gezi trat ich meine neue Stelle als Türkei-Korrespondent der "Welt" an. Die Parlamentswahl vom Juni bzw. deren Wiederholung im November sollten eine Phase abschließen, die mit Gezi angefangen hatte.

Es kam bekanntlich anders. Die Hälfte der türkischen Wählerinnen und Wähler entschied sich für dieses autoritäre Regime.

Am Wahlabend sagte eine Freundin, eine bekannte türkische Journalistin: "Ich weiß nicht, wie ich weiter Journalismus machen soll." Sie meinte nicht die offenen Drohungen (Link: http://www.welt.de/148150650) von AKP-Politikern gegen ihre und andere oppositionelle Zeitungen.

"Was soll ich tun? Hier über eine Ungerechtigkeit berichten, dort die Opfer des nächsten Massakers besuchen? Ich will nicht Chronistin des Leides sein, wo es keine Hoffnung auf Besserung gibt."

Ich verstand sie nur zu gut.

Am nächsten Tag erzählte mir ein Freund, ein junger Kollege aus einer anderen Zeitung, wie deprimiert gerade die Redaktionssitzungen bei ihnen verlaufen würden: "Sie haben gewonnen, trotz all dem schreienden Unrecht. Mir scheint alles so sinnlos."

Diese Partei wird ihre Macht nie abgeben

Ganz ähnlich fühlte sich Lisa. Oder nein, sie fühlte sich nicht ähnlich. "Ich habe seit zwei Tagen das Bett nicht verlassen", erzählte sie, als ich sie anrief.

"Ich hadere mit diesem Land und seinen Menschen. Denn diese Partei wird die Macht nie mehr abgeben. Und selbst wenn ich aufhöre, mich für Politik zu interessieren, werde ich hier nicht mehr die Filme sehen und Zeitungen lesen können, die ich will. Und ich frage mich, ob das alles umsonst war, ob ich umsonst meine Beine verloren habe und all diese Menschen umsonst gestorben sind."

Dieselbe Frage werden sich auch jene stellen, die bei den Gezi-Protesten durch Tränengasgranaten ihre Augenlicht verloren haben, oder in Ankara, Suruc oder andernorts so wie Lisa bleibende Schäden davontrugen: War alles umsonst? Lisa hat keine Antwort darauf. Ich auch nicht.

Dieses Land riskiert eine ganze Generation zu verlieren

Das war ihr übrigens in allen Gesprächen wichtig: zu betonen, dass es ihr nicht um ihr Schicksal gegangen sei. Dass auch andere ihr Leben verloren hätten und nicht alle Überlebenden so viel Aufmerksamkeit erfahren wie sie.

Die HDP kümmert sich um Lisa, in Europa haben Menschen eine Spendenkampagne für sie gestartet, um die rund 100.000 Euro zusammenzutragen, die für Prothesen und Rehabilitation notwendig sind. Anfang des Jahres wird Lisa nach Deutschland kommen, um sich operieren zu lassen.

"Vielleicht werde ich das in paar Wochen anders sehen, aber im Moment denke ich, dass ich am liebsten dort bleiben würde. Ich will nicht zurück."

So wie sie denken gerade viele Menschen, gerade Menschen in ihrem Alter. Dieses Land riskiert, eine ganze Generation zu verspielen. Die vielleicht klügste, aufgeklärteste und fröhlichste, die es jemals hervorgebracht hat.