FAZ, 04.11.2015

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Erdogan und das Volk

Was die Türken wollen

Die Türkei entwickelt sich zu einer Autokratie mit plebiszitären Elementen. Sollte Präsident Erdogan seinen rücksichtslosen Kurs fortsetzen, wird die Stabilität nur von kurzer Dauer sein.
04.11.2015, von Michael Martens, Istanbul

Recep Tayyip Erdogan ist kein Diktator. Ein Diktator legt das Ergebnis einer vermeintlichen Wahl vorher fest, und wenn er andere Kandidaten zulässt, dann nur solche, die ihm genehm sind. Beides ist in der Türkei nicht der Fall. In Ankara gab und gibt es drei echte Oppositionsparteien im Parlament, von denen zumindest zwei ein grundsätzlich anderes Verständnis vom idealen Aufbau eines Staates sowie von der Rolle des Islams in der Gesellschaft haben als Erdogan und seine Partei. Als es am Sonntag galt, über die künftige Zusammensetzung des türkischen Parlaments zu entscheiden, gaben mehr als 85 Prozent der dazu berechtigten Bürger ihre Stimme ab. Um eine derart hohe Wahlbeteiligung können europäische Demokratien die Türkei beneiden. In Deutschland nahmen zuletzt zu Beginn der Ära Kohl vergleichbar viele Bürger an einer Bundestagswahl teil.

Michael Martens Autor: Michael Martens, Korrespondent für südosteuropäische Länder mit Sitz in Athen. Folgen:

Allerdings ist die Türkei alles andere als eine funktionierende Demokratie. Das war sie nie in ihrer mehr als neun Jahrzehnte währenden Geschichte, auch wenn sie zu Beginn des Jahrtausends auf dem Weg zu mehr Rechtsstaatlichkeit in wenigen Jahren so viele Fortschritte wie nie zuvor erreichte. Das geschah unter der Führung von Erdogan als Ministerpräsident.

Er ist es jedoch auch, der seither als Staatspräsident vor allem für Rückschritte und zum Teil erschreckende Eingriffe in die Rechte seiner Bürger verantwortlich ist. In der Türkei ist ein mehr oder minder demokratischer Wahltag eingerahmt von einer mangelhaften Demokratie, in der unter anderem die Freiheit der Medien, der Justiz und der Versammlung nur partiell gegeben ist. Die Türkei entwickelt sich zu einer Autokratie mit plebiszitären Elementen.
AKP hat sich stark gewandelt

Für die türkische Demokratie wäre es von Vorteil gewesen, wenn Erdogans Machtmaschine, die Regierungspartei AKP, am Sonntag nicht die absolute Mehrheit der Mandate gewonnen hätte und zur Bildung einer Koalition genötigt gewesen wäre. Dann hätte die Partei nämlich die alleinige Kontrolle über Schlüsselressorts wie die Ministerien des Innern und der Justiz verloren, mit heilsamer Wirkung für die Rechtsstaatlichkeit im Lande. Die AKP, die 2002 ihre erste Parlamentswahl gewann, und die AKP, die 2015 zum fünften Mal in Folge bei nationalen Wahlen stärkste politische Kraft des Landes wurde, haben nicht viel miteinander gemein.

Dennoch haben die Türken entschieden, dass diese Partei allein das Land regieren soll, und dafür haben sie zumindest nachvollziehbare Gründe. Bei vielen Türken sind die Erinnerungen an die neunziger Jahre mit ihren kurzlebigen Koalitionskabinetten noch wach. Die Furcht vor instabilen Regierungen ist in der Türkei ähnlich stark ausgeprägt wie die Inflationsangst in Deutschland. Viele Türken setzen das Wort „Koalition“ mit Chaos, Geldentwertung und Wirtschaftskrise gleich.

Die Talfahrt der türkischen Lira in den vergangenen Monaten, die sich bei den unteren Einkommensschichten durch steigende Lebenshaltungskosten schmerzhaft bemerkbar machte, erklärte sich ein großer Teil der Wähler mit dem Umstand, dass die AKP das Land nicht mehr mit starker Hand regiere. Angesichts der Kämpfe in Südostanatolien, des Terroranschlags von Ankara und einer erlahmten Wirtschaft hielten die Wähler nicht viel von der Auffassung, eine Koalition sei besser in der Lage, die anstehenden Aufgaben des Landes zu bewältigen. Die Erwartung von Stabilität war ihnen wichtiger als Medienfreiheit und Bürgerrechte.
Krieg gegen Kurden als Teil des Wahlkampfs

Sollte Erdogan seinen rücksichtslosen Kurs gegen alle Gegner im Innern jedoch fortsetzen, droht das Ergebnis dieser Wahl in eine nur kurzfristige und scheinbare Stabilität zu münden, während die unterdrückten Spannungen sich früher oder später umso gewalttätiger entladen werden. Erdogan hat Armee und Sicherheitskräfte als Teil des Wahlkampfs mit aller Macht gegen die kurdische Terrororganisation PKK vorgehen lassen.

Das ist verständlich, denn kein Staat kann das Treiben einer bewaffneten Bande dulden, die Sprengstoffanschläge auf seine Soldaten und Polizisten verübt. Doch zugleich wurden und werden in Südostanatolien Hunderte kurdischer Anwälte, Lokalpolitiker und Menschenrechtler verhaftet, die keineswegs alle Terroristen sind, wie der Staat behauptet. Der „Terrorismus“ vieler Verhafteter erschöpft sich darin, für Menschenrechte und gegen Erdogan zu sein.

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Die AKP und ihr mächtigster Mann waren in der „Kurdenfrage“, die auch eine „Türkenfrage“ ist, schon einmal weiter. Sie wussten, dass sich dieser Konflikt weder militärisch noch durch Massenverhaftungen lösen lässt. Ohne eine Rückkehr zu dieser Einsicht wird der unruhige Südosten der Türkei nicht zur Ruhe kommen und auch wirtschaftlich immer weiter hinter dem Rest des Landes zurückbleiben.

Diese Erkenntnis ist bei der politischen Führung der Kurden freilich auch noch nicht mehrheitsfähig. Die gewählten kurdischen Politiker kritisieren Erdogan als Wurzel allen Übels für die Kurden. Wahren Mut muss die politische Bewegung der Kurden aber unter Beweis stellen, indem sie sich gegen einen für sie viel gefährlicheren Gegner stellt: gegen die PKK, die noch immer glaubt, die Antwort auf den kurdisch-türkischen Konflikt seien Waffen und Blut.