zeit.de, 03.11.2015

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Auf dem Weg zum failed state

Erdoğan braucht keine Verfassungsänderung, um als Präsident die Macht in der Türkei zu bekommen. Er hat sie sich längst genommen. Zwischenbilanz eines stillen Putsches

Ein Gastbeitrag von Burak Çopur

Aus der deutschen Politik kennen wir die Formel "Krisenzeiten sind Kanzlerzeiten". Das hat sich mit dem Wahlsieg der regierenden AKP nun auch in der Türkei bestätigt. Die Strategie des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan ist aufgegangen. Er hat im Land einen permanenten Ausnahmezustand erzeugt, damit sich die Wähler auf der Suche nach Stabilität zu ihnen flüchten. Alles andere, so hat die AKP immer wieder beschworen, käme einer Apokalypse für die Türkei gleich.

Nun ist die entscheidende Frage, ob Erdoğan das Wahlergebnis als Botschaft zur Versöhnung und Normalisierung oder als Bestätigung für die "Politik der harten Hand" auffasst. Noch ist das Ergebnis zu frisch, um eine klare Antwort darauf zu geben. Doch in der zuletzt zentralen innenpolitischen Frage ist schon heute klar, dass Erdoğan sich bereits durchgesetzt hat – und zwar gegen die Regeln der eigenen Verfassung.

Im August dieses Jahres hielt der 2014 direkt vom Volk gewählte türkische Staatspräsident in seiner Herkunftsstadt Rize eine höchst aufschlussreiche Rede, die hierzulande wenig Beachtung fand: "Im Land gibt es keinen symbolischen Präsidenten mehr, sondern einen mit tatsächlicher Macht. Das Regierungssystem der Türkei hat sich in diesem Sinne verändert. Dieser faktischen Situation muss man mit der Verfassung eine endgültige Form geben", so Erdoğan.

Das ist die Realität in der Türkei: Das Präsidialsystem, für das Erdoğan eigentlich eine Zweidrittelmehrheit im Parlament braucht, hat er de facto bereits eingeführt. Er hat sich längst von den Fesseln parlamentarischer Kontrolle befreit. Er hat die Wahl auch deshalb gewonnen, weil er die Institutionen des Staates systematisch geschwächt, unter seine persönliche Kontrolle gebracht hat, und sich zudem eigene, neue Machtmittel verschafft hat.

Das Regime Erdoğan

Die tragenden Säulen des faktischen Präsidialsystems setzen sich aus den drei Gewalten der Legislative, Exekutive und Judikative zusammen, wobei in vielen Demokratien auch eine unabhängige Presse als vierte Gewalt hinzugezählt wird. Schon jetzt beherrscht Erdoğan einen Großteil des Parlaments, der Justiz, der Sicherheitsbehörden und der Medien, dazukommen zivilgesellschaftliche Institutionen, im Bildungsbereich etwa die mächtige Türkische Stiftung für Jugend und Erziehung (Türgev), die größtenteils von Erdoğans Sohn Bilal Erdoğan verwaltet wird. Ein vertiefter Blick in dieses strukturelle Machtgeflecht soll das System Erdoğan verstehen helfen.

Die Justiz als Schutzschild

In der Justiz hat der Staatspräsident bereits im Rahmen der Korruptionsvorwürfe (2013) gegen sich und seine Familie über 1.000 Richter und Staatsanwälte versetzt oder ihrer Posten enthoben. Im Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK), der unter anderem die Besetzung der Richter und Staatsanwälte regelt, hat Erdoğan seine Anhänger platziert, darunter den Bruder seines persönlichen Anwalts. Daraufhin hat die Justiz alle Korruptionsermittlungen eingestellt.

Weil nicht alle verbeamteten Juristen autoritätshörig sind, ließ sich Erdoğan 2014 über seine parlamentarische AKP-Mehrheit ein paralleles Justizsystem errichten: die sogenannten sulh ceza hakimlikleri. Das sind weitestgehend mit Erdoğan-treuen Strafrichtern besetzte Ämter, die in Einzelrichterverfahren über Untersuchungen und Verhaftungen entscheiden. Mit diesen par ordre du mufti durchgeführten Einzelentscheidungen werden insbesondere Oppositionelle und aufmüpfige Journalisten bekämpft. Ein solcher Strafrichter hat beispielsweise die Erdoğan-kritische Unternehmergruppe Koza Ipek unter Zwangsverwaltung gestellt, woraufhin die Polizei auch in die Zentrale des Medienkonzerns in Istanbul eindrang und die Kontrolle über zwei Fernsehsender übernahm.

Die Sicherheitsapparate als Handlanger

All diese Polizeioperationen sind nur deshalb möglich, weil es Erdoğan gelang, den polizeilichen Staatsschutz und den türkischen Geheimdienst MIT gleichzuschalten. Der Geheimdienstchef Hakan Fidan agiert mittlerweile nicht wie ein zur Neutralität verpflichteter Beamter, sondern als Erfüllungsgehilfe Erdoğans. Eigentlich trat Fidan im Februar 2015 kurzzeitig zurück, um als AKP-Mitglied für das Parlament zu kandidieren. Doch dann wurde er öffentlich von Erdoğan zurückgepfiffen und musste seinen Job als oberster Agent wieder aufnehmen. Erdoğan brauchte ihn noch. Der MIT verkommt zunehmend zu einer Art "türkischer Stasi", die nur noch im Auftrag der Erdoğan'schen AKP handelt.

Manipulation und schwarze Kassen

Dieser Geheimdienst schaute – bewusst oder unbewusst – beim Attentat in Ankara weg, als im Herzen der Türkei IS-Selbstmordattentäter über 100 Menschen in den Tot bombten. Das war ein Totalversagen des türkischen Staats. Keiner der für die Sicherheit des Landes zuständigen Minister hat Verantwortung übernommen, keiner trat bisher zurück.

Noch beunruhigender ist, dass nun vermehrt vorbestrafte Ex-Mafiabosse und Ultra-Nationalisten des "tiefen Staats" der neunziger Jahre wie Sedat Peker oder der aus der Haft entlassene ehemalige Innenminister Mehmet Ağar mit öffentlichen Solidaritätsbekundungen für Erdoğan auffallen.

Dies alles sind Anzeichen für den Zerfall eines Staates, der beansprucht, auf Gewaltenteilung zu beruhen. Nicht umsonst hat die renommierte Denkfabrik Fund for Peace, die jährlich einen Index über fragile Staaten erstellt, die Türkei in diesem Jahr von 178 Ländern auf Platz 90 eingestuft und mit einer "Warnung" versehen. Die stolze Republik Atatürks ist auf dem Weg zu einem gescheiterten Staat, einem failed state.

Die Medien als Manipulationsinstrumente

Der haushohe Wahlsieg am Sonntag ist auch mit einer privaten Medienlandschaft zu erklären, die von Erdoğan gelenkt wird. Sie betreibt AKP-Propaganda gegen Regimegegner. Die türkische Medienaufsicht, der Oberste Rundfunk- und Fernsehrat (RTÜK), sorgte besonders in diesem Wahlkampf dafür, dass Erdoğan lange genug im staatlichen Fernsehen TRT zu sehen war – 100 Stunden Sendezeit bekamen er und seine AKP im vergangenen Monat – alle Oppositionsparteien zusammen kamen nicht einmal auf ein Viertel dieser Zeit. Das Erdoğan'sche Mediensystem wird von Kritikern auch despektierlich als "Medienpool" ("havuz medyası") bezeichnet – in Anspielung auf die heimlichen Telefonmitschnitte der AKP-Korruptionsskandale, in denen auch von einer mit den Geldern aus Bestechungen gefüllten Geldsammelstelle berichtet wurde.

Die schwarze Kasse des Präsidenten

Während mit dem oben genannten Geld die AKP-Propagandamaschinerie am Laufen gehalten wird, hat sich Erdoğan zusätzlich einen ansehnlichen staatlichen "Reptilienfonds" von umgerechnet 170 Millionen Euro zugelegt. Dieser Fonds unterliegt der Geheimhaltung, über ihn muss keine parlamentarische Rechenschaft abgelegt werden. "Reptilienfonds" gehen zurück auf den Reichskanzler Bismarck, der sich zur Bekämpfung von Staatsfeinden – er nannte sie "bösartige Reptilien" – einen solchen Geheimfonds organisierte, mit denen er unter anderem geheimpolizeiliche Maßnahmen finanzierte. Mit der gleichen Begründung (geheimdienstliche Interessen des Staatspräsidenten) wurde das Gesetz zur Einführung eines solchen Reptilienfonds kurz vor den Wahlen im Juni 2015 durch die AKP-Parlamentsmehrheit beschlossen. Die Opposition wirft Erdoğan vor, dass ein Teil des Geldes für die Finanzierung seiner als öffentliche Großkundgebungen getarnten Wahlkampfauftritte missbraucht wird.

Gerade während dieser Massenveranstaltungen wird immer wieder deutlich, dass die institutionelle Macht des Präsidenten auch von einer gesellschaftlichen Unterstützung und einer islamisch-religiösen Basis genährt wird, von einer Art Führerkult. In der Türkei gibt es viele Erdoğan-Verehrer, die jederzeit bereit sind, für ihn zu sterben, ihn zu beschützen, Regierungskritiker zu bedrohen oder sogar Journalisten zu verprügeln.

Kommt nun die Verfassungsänderung?

So hat sich der Machtmensch Erdoğan faktisch ein paralleles Präsidialsystem aufgebaut und regiert das Land aus einem ottomanischen Schwarzbau-Palast. Der AKP-Wahlsieg wird ihn jetzt an der Macht halten, weil die Opposition den Menschen anscheinend keine Alternative bot. Mit Erdoğan wird es keine Normalisierung und Demokratisierung mehr im Land geben. Das Wahlergebnis wird ihn vermutlich weiter ermutigen, nun auch die Verfassung an die machtpolitischen Realitäten anzupassen. Ob das gelingt, ist angesichts der ihm im Parlament dafür fehlenden Mehrheit zwar unklar. Allein der Versuch dürfte aber zu weiteren Spannungen und Konflikten führen.

Es bleibt nur zur hoffen, dass das Wahlergebnis vom 1. November 2015 nicht im Rückblick als der Ausgangspunkt für einen Erdoğan'schen Regimewechsel datiert wird. Denn genau an diesem Tag wurde am 1. November 1922 das Sultanat in der Türkei abgeschafft. Es wäre fatal für das Land, würde dieser Schritt nun rückgängig gemacht.

 

Burak Çopur ist promovierter Politikwissenschaftler, Türkei-Experte und Migrationsforscher am Institut für Turkistik der Universität Duisburg-Essen.