Neue Zürcher Zeitung, 05.11.2015

http://www.nzz.ch/meinung/debatte/erbakans-erben-sind-am-ziel-1.18641183


Islamismus in der Türkei

Necmettin Erbakans Erben sind am Ziel

Recep Tayyip Erdogans Abwendung von Europa ist keine Trotzreaktion auf die ihm verweigerte EU-Mitgliedschaft. Sie ist in seiner politischen Biografie begründet.

Gastkommentarvon Hüseyin I. Cicek

In der Nato gibt es wahrscheinlich keinen vergleichbaren Fall, dass ein langjähriges Mitglied sich in aller Öffentlichkeit europäisch deklariert, eine krude antisemitische Politik betreibt und parallel dazu offen jihadistische Gruppen im Irak und in Syrien unterstützt. Einen Erklärungsansatz könnte die jahrelange rigide Politik Frankreichs und Deutschlands mit Blick auf die EU-Vollmitgliedschaft der Türkei liefern. Mehrfach haben Nicolas Sarkozy und Angela Merkel die Türkei als nichteuropäisches Land klassifiziert und somit einen Beitritt zur EU faktisch ausgeschlossen.

Zugleich könnte man die kurzsichtige und deregulierende Nahostpolitik der zweiten Bush-Administration für die politische Haltung der Türkei verantwortlich machen. Beide Erklärungen gehen allerdings davon aus, dass die politischen Intentionen der seit 2002 regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) von Recep Tayyip Erdogan mit Blick auf Europa und den Westen aufrichtig waren. Eine kritische Analyse der türkischen Innenpolitik seit der Machtübernahme der AKP kommt zu einem ganz anderen Schluss.

Im politischen Umfeld der Milli-Görüs-Bewegung sozialisiert, gehören Erdogan und einige seiner Gefolgsleute zu den ideologischen Erben Necmettin Erbakans. Letzterer gründete seine Partei in den 1960er Jahren auf drei Fundamenten: nostalgischer Osmanismus, politischer Islamismus und Antisemitismus. Zwar ist es keineswegs neu in der Türkei, den Islam politisch zu nutzen. Schon Mustafa Kemal Atatürk und dessen Nachfolger verbanden Religion, Laizismus und Nationalismus miteinander und boten der Türkei damit eine neue Identität an. Der Unterschied zu Erbakans Islamismus besteht aber darin, dass dieser eine Annäherung an die ägyptischen Muslimbrüder suchte und sich für eine islamistische Internationale engagierte.

Flankiert wurde diese Politik mit einer nostalgischen Rezeption der Eroberungs- und Herrschaftsgeschichte des Osmanischen Reiches. Vor allem die Kommunisten standen laut Erbakan einer globalen Muslimbruderschaft im Weg, genauso warf er den Juden und Israel vor, gegen die islamische Weltgemeinde, die «Umma», zu politisieren. Die Homogenität und den politischen Willen der Muslime, eine Umma zu werden, setzte Erbakan einfach voraus. Eine solche Vereinigung, glaubte er, würde Schutz vor dem Judentum bieten können. Dafür, dass die Muslime freilich nicht zueinanderfinden wollten, machte Erbakan ebenfalls die Juden verantwortlich.

Die Trennung zwischen den Anhängern von Milli Görüs und der AKP im Jahr 2000 war weniger die Folge einer ideologischen Differenz, sondern mehr strategischen Überlegungen geschuldet. Denn seit der Einführung von freien Wahlen in den 1950er Jahren griffen das Militär und die Judikative immer wieder nach der Macht und setzten demokratisch gewählte Regierungen ab. Die politische Macht musste also erst aus den Händen der alten kemalistisch-autoritären Elite gerissen werden. Um dieses Ziel zu erreichen, entschied sich die AKP dafür, politische und wirtschaftliche Reformen im Einklang mit europäischen Standards durchzusetzen. Sie verteidigte daher auch zunächst die individuellen Rechte türkischer Bürger und forcierte eine neue Minderheitenpolitik.

Flankiert wurde dies durch eine liberale Ausrichtung der türkischen Wirtschaft. Dieses Vorgehen war auch eine Antwort auf die Ereignisse im Jahr 1997, als das Militär erneut interveniert und Erbakan zum Rücktritt gezwungen hatte. Die EU kritisierte den Vorgang damals scharf und forderte von der Türkei die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien. Erdogan, damals Bürgermeister von Istanbul, und Teile der Milli-Görüs-Bewegung hielten sich daran und paktierten mit Brüssel.

Der 11. September 2001 stärkte die AKP zusätzlich. Auf der Suche nach liberal-muslimischen Nationalstaaten setzten die USA und die EU ihre Hoffnungen auf die Politik Erdogans. Ab 2008 gelang es diesem, das türkische Militär final in die Knie zu zwingen. Parallel dazu unterstützte die AKP bereits 2006 die islamistische Hamas, während sich die Beziehungen zur Fatah verschlechterten. Antiisraelische und antisemitische Propaganda wurde nicht nur von AKP-nahen Zeitungen wie «Yeni Safak», sondern auch über Fernsehserien salonfähig gemacht.

Die Stürmung eines türkischen Gaza-Hilfsschiffes durch israelische Soldaten 2009 führte zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Israel und zu harscher antisemitischer Rhetorik in der Türkei. Sogar die Gezi-Proteste im Sommer 2013 wurden von der AKP benutzt, um gegen Israel und das Weltjudentum zu hetzen. Im Zuge des Arabischen Frühlings unterstützte die AKP dann nicht nur die Muslimbrüder in Ägypten, sondern weitaus radikalere Gruppen. Mittlerweile ist es den Erben Erbakans möglich, ihren Politik-Mix aus Neo-Osmanismus, politischem Islam und Antisemitismus ohne Widerstand in der Türkei durchzusetzen.

Hüseyin I. Cicek ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa (Ezire).