Neue Zürcher Zeitung, 08.11.2015 http://www.nzz.ch/international/europa/eine-stadt-kaempft-um-ihren-ruf-1.18642555 Der IS in der Türkei Eine Stadt kämpft um ihren Ruf Drei Anschläge in der Türkei haben innert kurzer Zeit mehr als 130 Menschenleben gefordert Mindestens drei der vier Täter kamen aus der mehrheitlich kurdischen Stadt Adiyaman im Osten des Landes. von Inga Rogg Zur Begrüssung gibt es Nüsse und getrocknete Trauben. Mit ausladender Geste zeigt Hüsrev Kutlu, Bürgermeister von Adiyaman, auf die Früchte. «Seht, das ist Adiyaman», sagt Kutlu, als wollte er einen wertvollen Schatz präsentieren. Früher war die verschlafene ostanatolische Stadt berühmt für ihren guten Tabak, Touristen aus aller Welt kamen hierher, um das Grabheiligtum von König Antiochus von Kommagene auf dem Nemrut Dagi zu besuchen. Heute steht sie im Ruf, eine Brutstätte von Terroristen des Islamischen Staats (IS) zu sein. Ein Sohn der Stadt war am Anschlag in Ankara beteiligt, der bisher schwersten Terrorattacke in der Geschichte der Türkei, sein Bruder verübte einen weiteren Anschlag. Gemeinsam haben sie mindestens 135 Menschenleben auf dem Gewissen. Derzeit fahnden Sicherheitskräfte nach mehr als zwanzig potenziellen Selbstmordattentätern. Die meisten von ihnen gehören der «Dokumaci»-Gruppe an, benannt nach Mustafa Dokumaci, der als Kopf der sogenannten Adiyaman-Zelle gilt. Auf der kürzlich vom Innenministerium veröffentlichten Liste der meistgesuchten Terroristen stehen 19 IS-Mitglieder, 15 von ihnen stammen aus Adiyaman. Und allein aus dieser Stadt sollen sich laut türkischen Medienberichten rund 400 Kämpfer dem IS angeschlossen haben. Bürgermeister Kutlu, der früher für die regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) im Parlament sass, hält die Zahl für masslos übertrieben. Nicht mehr als dreissig seien es, sagt er. «Die Provinz hat 600 000 Einwohner, die Stadt 225 000. Das zeigt doch, dass es nur eine kleine Gruppe ist.» Vielleicht. Die Opposition und Menschenrechtler werfen der türkischen Regierung freilich vor, sie habe den Rekrutierungsversuchen des IS viel zu lange zugeschaut. Angehörige beklagen sich, von den Behörden im Stich gelassen worden zu sein. Monatelang habe seine Familie geradezu gebettelt, endlich etwas zu unternehmen, sagt Ercan Gönder. Sein jüngerer Cousin, der 20-jährige Orhan Gönder, soll die beiden Sprengsätze gelegt haben, die Anfang Juni an einer kurdischen Wahlkampfveranstaltung in Diyarbakir vier Personen töteten. Wie die meisten in der Stadt sind die Gönders Kurden. Zwar stehen Kurden an vorderster Front gegen den IS. In vergangenen Jahrzehnten kämpften sie jedoch auch in den Reihen der Kaida in Afghanistan oder im Irak. Eine kurdische Extremistengruppe war eine der Keimzellen der Organisation der irakischen Kaida, aus der der IS hervorgegangen ist. Hunderte von Kurden aus dem Irak, Syrien und der Türkei haben sich ausserdem dem IS angeschlossen, unter ihnen die Selbstmordattentäter aus Adiyaman. Im Gegensatz zum Rest der Adiyaman-Zelle sind die Gönders jedoch keine Sunniten, sondern Aleviten, die wegen ihres Glaubens von den Fanatikern als Ungläubige denunziert werden. Seit der Verhaftung von Orhan kurz nach dem Anschlag in Diyarbakir geht ein Riss durch die Familie. Die Gemeinde schneide sie, Verwandte wollten sie nicht mehr sehen, sagt Gönder. Auch das ist ein Grund, warum der 34-Jährige die Öffentlichkeit sucht. Er will aufrütteln und verhindern, dass in der Türkei noch mehr Unheil geschieht. Eine angesehene Familie Erste Anzeichen, dass Orhan auf die schiefe Bahn geraten war, nahm die Familie Anfang 2014 wahr. Plötzlich habe er angefangen fünfmal täglich zu beten, intensiv den Koran gelesen und sich in sein Zimmer eingeschlossen, sagt Ercan Gönder. «Dann wollte er nicht mehr mit den Frauen an einem Tisch sitzen.» Der typische Werdegang vieler Extremisten. Die Familie redete mit ihm, machte Druck. «Doch je mehr Druck wir machten, desto radikaler wurde er.» Die Gönders sind eine angesehene Familie, sie besitzen mehrere Bäckereien, eigene Häuser. Der Vater wollte, dass Orhan studiert, er zahlte ihm den Unterricht an einer privaten Paukschule, damit er die Aufnahmeprüfung an die Universität schafft. Aus guten Verhältnissen stammten auch die beiden Selbstmordattentäter Yunus Emre und Abdurrahman Seyh Alagöz. «Ihre Radikalisierung war keine ökonomische Frage», sagt Hanifi Cavus, Kreisvorsitzender der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP). Die meisten Mitglieder der Dokumaci-Gruppe stammen laut einer Untersuchung der CHP aus Mittelklassefamilien. «Einige kommen aus armen Verhältnissen, aber mehr als die Hälfte stammt aus Bäckerfamilien», sagt Cavus. «Wenn du in Adiyaman eine Bäckerei und ein Haus besitzt, geht es dir gut.» Ein Abschiedsbrief Warnungen über die Rekrutierung des IS, der sich damals noch anders nannte, gab es bereits 2013. Die CHP forderte damals eine Untersuchung. «Nestbeschmutzer» seien sie von Regierungsvertretern genannt worden, sagt Cavus. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Alagöz-Brüder und andere Mitglieder der Adiyaman-Zelle bereits nach Syrien abgesetzt. Eltern informierten die Polizei über die mutmasslichen Hintermänner der IS-Anwerbung, ein Gericht leitete gegen 19 Verdächtige ein Verfahren wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation ein. Verzweifelte Väter machten sich auf den Weg nach Syrien, um nach ihren Söhnen zu suchen. Trotzdem konnten die Alagöz-Brüder einige Monate später nach Adiyaman zurückkehren. Mitten in der Stadt, nur einen Steinwurf von einer religiösen Mittelschule entfernt, eröffnete der Ältere von beiden, Yunus Emre, in einem Laden einen Treffpunkt. Monatelang diente der von den Medien als «Teehaus» bezeichnete Laden dem IS als Anlaufstelle. Auch Orhan Gönder verkehrte regelmässig hier. Auf Nachfragen reagieren Nachbarn heute gereizt. Die Männer, die sich im Teehaus gegenüber die Zeit vertreiben, überziehen uns erst einmal mit einer Schimpftirade. «Ihr wollt nur das Ansehen unserer Stadt in den Dreck ziehen», zetert einer der Männer im Rentenalter. Schliesslich geben sie doch Auskunft. Ganz normale Leute hätten sich da zum Beten und Lesen getroffen. Nichts Besonderes also? «Na ja, dass sie ein Schild in arabischer Schrift aufhängten, war schon komisch», sagt der Teehausbesitzer. Auch dass sie zum Gebet nicht in die Moschee gingen, sondern ihre eigenen Gottesdienste abhielten, sei seltsam gewesen. Am 13. Oktober 2014 schrieb Orhan Gönder seiner Familie einen Abschiedsbrief. Er habe Angst vor der PKK, der Arbeiterpartei Kurdistans, schrieb er. «Ich muss weg.» Wenige Tage zuvor war es in den kurdischen Gebieten der Türkei zu schweren Unruhen gekommen. In Syrien hatte der IS einen Grossangriff auf die Stadt Kobane (Ain al-Arab) gestartet, die von Kämpfern, die mit der PKK verbündet sind, gehalten wurde. In der Türkei zogen Kurden auf die Strasse und forderten von der Regierung Unterstützung für die belagerten Rebellen. Doch diese stellte sich stur. Kritiker werfen der Regierung vor, sie habe gegenüber dem Unwesen des IS in der Türkei ein Auge zugedrückt, weil sie mit aller Macht auf den Sturz des syrischen Regimes und die Eindämmung der Kurden setze. «Die Regierung hat diese Organisation wegen ihrer Syrien-Politik einfach ignoriert», sagt der Anwalt und Vorsitzende des Menschenrechtsvereins Osman Suzen. Schon vor zwei Jahren hatte Suzen die Behörden vor der Radikalisierung von jungen Männern und Frauen gewarnt. Im Auftrag der Familie von Zwillingsbrüdern, die sich 2013 zum Jihad nach Syrien aufmachten und die jetzt auf der türkischen Terroristenliste stehen, wandte er sich an die Polizei. Als die Söhne ein paar Monate später zurückkehrten, verhörte sie die Polizei zwar, liess sie aber kurze Zeit später wieder laufen. «Keine Ermittlungen, keine Festnahmen, nichts», sagt Suzen. Mehrere Familien trafen sich im Dezember 2014 sogar mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu, unter ihnen die Alagöz' und die Gönders. Davutoglu liess sich die Namen geben und versprach Hilfe. Zwei Wochen später erfuhren sie, dass die Söhne in Tell Abiad sind. Gemeinsam mit Orhans Vater fuhr Ercan Gönder nach Akcakale, die nächstgelegene Grenzstadt. «Leute erzählten uns, dass sie Orhan öfter beim Einkaufen und im Internetcafé gesehen hätten», sagt der 34-Jährige. «Er kam öfter. Die Polizei hätte ihn festnehmen können. Nach ein paar Monaten sickerten die Alagöz-Brüder und Gönder wieder in die Türkei ein. Ende Juli sprengte sich Abdurrahman Seyh in Suruc in die Luft und riss 33 friedliche Aktivisten in den Tod. Knapp drei Monate später verübte sein älterer Bruder den Anschlag von Ankara, der mindestens 102 Menschen das Leben kostete. Hilflose Stadtväter Bürgermeister Mutlu wehrt sich gegen die Vorwürfe, die Regierung habe viel zu spät reagiert. «Wir haben alles getan, was wir konnten.» Und: «Adiyaman ist sicher.» Die Feststellung ist ihm wichtig. Zum Beweis führt uns der joviale Mann mit den buschigen Brauen und dem Schnauzer durch die Stadt, zeigt uns das beste Kebab-Lokal und das besten Süssigkeiten-Geschäft. Breite Strassen, ein Basar, der auch mitten in der Nacht noch offen ist. Die Menschen hier sind offenkundig religiös, aber nicht konservativer als in anderen anatolischen Städten. Und wie will der Stadtvater verhindern, dass sich noch mehr junge Leute radikalisieren? Die Stadt werde der Dokumaci-Gruppe die Bürgerschaft entziehen, sagt Mutlu. Das findet Oppositionspolitiker Cavus absurd: «Diese Leute wollen ins Paradies. Denen ist egal, ob sie noch Bürger unserer Stadt sind.»
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