nachrichten.at, 08.11.2015

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Heimkommen in eine zerstörte Stadt

Obwohl Kobane in Schutt und Asche liegt, wollen viele Geflohene nur eines: zurück nach Hause.
Heimkommen in eine zerstörte Stadt

Kleinbusse, bis über das Dach beladen mit Hausrat und Möbeln, stehen an der Grenze zwischen der Türkei und Syrien: Flüchtlinge, die hoffen, heute endlich weiterzukommen. Nicht in die Türkei, nicht nach Europa. Nach Syrien. "Sie kommen nach Hause", sagt Rawshan Koulagassi, Vizeaußenministerin des Kantons Kobane. Am Donnerstag empfing sie mit ihren Regierungskollegen eine Delegation des oberösterreichischen EU-Abgeordneten Josef Weidenholzer (SPÖ). Bis zuletzt war unklar, ob es überhaupt möglich sein würde, die Grenze zu passieren.

Nach Kobane kommen oder Kobane verlassen: Beides ist derzeit fast unmöglich. Die Türkei hat den Grenzübergang dicht gemacht. Vor knapp einem Jahr gingen die Bilder aus Kobane um die Welt. Die Kurden in der nordsyrischen Region hatten sich dem IS entgegengestellt, ihre Stadt im Häuserkampf verteidigt. Das hat Spuren hinterlassen, an den Menschen und an der Stadt. Drei Viertel von Kobane wurden zerstört. Straßenzüge liegen noch in Trümmern, unter dem Schutt kommen Kleider und Möbel zum Vorschein, die davon zeugen, dass hier einmal normales Leben stattgefunden hat.

"Wir haben uns an diese Bilder gewöhnt", sagt Koulagassi. Die Kraft, ihre Stadt wieder aufzubauen, nimmt sie wie viele andere aus dem Stolz, sie gegen den IS verteidigt zu haben. "Wir sehen hier überall das Blut unserer Jungen", sagt sie. Denen seien sie es schuldig, nach vorne zu blicken.

Der Neuanfang ist nicht einfach

Der Wiederaufbau geht überraschend gut voran. 70 Prozent der Infrastruktur seien wieder intakt, erzählt Enver Muslim, Premierminister des autonomen kurdischen Kantons. Auch die Versorgung mit Strom und Wasser ist in 80 Prozent der Stadt aufrecht. Fünf Krankenhäuser sind in der Region in Betrieb, in 118 Schulen wird wieder unterrichtet.

Einfach ist der Neuanfang nicht. "Das Hauptproblem ist, dass die meisten Dinge nicht ankommen", sagt der Syrer Ibrahim Sipan, der seit mehr als zwanzig Jahren in Deutschland lebt und nun in Kobane beim Wiederaufbau hilft. Mehr als 100.000 Lkws mit Schutt hätten sie bereits aus der Stadt abtransportiert. Die Beschaffung von neuen Baumaterialien sei finanziell und logistisch schwierig. "Wir bekommen alles teuer aus dem Irak oder der Türkei", sagt Sipan. Vieles kommt gar nicht über die Grenze, nicht nur Baustoffe, sondern auch medizinische Geräte oder Medikamente.

Ebenso schwierig ist es für die Menschen, für medizinische Behandlungen in die Türkei zu kommen. Es brauche dringend einen humanitären Korridor, sagt Sipan und appelliert dabei an die EU. "Europa hat nicht genug Druck gemacht auf die Türkei."

Eine Mahnung, die der EU-Parlamentarier Weidenholzer mit nach Brüssel nimmt. "Die Menschen hier wollen in der Region bleiben. Die EU muss daher vor Ort schneller und großzügiger handeln." Von der Türkei erwartet er sich, dass sie die Grenze zu Syrien offen hält.

175.000 schon zurückgekehrt

In der Region Kobane lebten vor den Angriffen des IS rund 400.000 Menschen. 175.000 sind bisher zurückgekehrt. 1800 bis 2500 syrische Kurden kommen derzeit pro Woche über die türkische Grenze zurück. Immer am Montag und Donnerstag lassen die Behörden sie passieren. "Dann haben wir hier Stau", lacht Rawshan Koulagassi.

Die Gefechte waren für sie nicht einmal das Schlimmste. Das war das Massaker im Juni dieses Jahres. Die IS-Kämpfer kamen in der Nacht, stürmten in die Häuser und töteten mehr als hundert Zivilisten. Koulagassi hat überlebt. "Wir haben uns im Haus still verhalten. Erst in der Früh trauten wir uns wieder hinaus und flüchteten aufs Land." Heute gebe es neben dem Militär auch eine Sicherheitseinheit der Bürger, "damit wir nachts schlafen können". Die Gefahr, das ist allen bewusst, ist nicht gebannt. Der IS steht nur fünfzig Kilometer von Kobane entfernt.